Die elfte Geißel
Ärztekammer drohte, einen guten Ruf erworben. Die unerschütterliche Sympathie seines Freundes Stéphane Firsh für Alain Broissard hatte ihn nachhaltig beeindruckt, und so hatte er den Polizisten angerufen, um ihm seine Dienste anzubieten.
»Die internen Ermittlungen des Dezernats für Amtsdelikte und die Strafanzeige, die gegen Kommissar Maxime Kolbe und Sie gestellt wurde, sind zwei voneinander unabhängige Verfahren, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns auf die Beschuldigungen der üblen Nachrede und der fahrlässigen Tötung konzentrieren.«
»Darf ich?«, unterbrach ihn Broissard und zog ein Päckchen Chesterfield aus seiner Jackentasche.
Da er Verständnis für die Aufregung hatte, die er im Gesicht des Polizisten las, hielt ihm der Anwalt einen Aschenbecher hin. Der Beamte zündete sich eine Zigarette an und versuchte sich zu beruhigen. Er hatte das Gefühl, sich inmitten einer riesigen Falle zu befinden, die ihn bald zermalmen würde. Er drehte den Stuhl um und setzte sich so hin, dass er die Ellbogen auf der Rückenlehne abstützen konnte. Der Anwalt beugte sich zu seinem Klienten vor und betonte jedes Wort:
»Der Mann, den Sie verhaftet haben, Gérard Maurois, war Fremdenführer in Crozant. Das heißt, er war sozial eingebunden. Er wird von allen als ein freundlicher Mensch und ein treu sorgender Familienvater beschrieben. Außerdem wurde er freigesprochen ...«
»Gérard Maurois ist der Täter!«, entfuhr es Broissard.
Aber eine leise innere Stimme wiederholte unentwegt seine Zweifel. Und wenn sie sich geirrt hatten? Die Frage quälte ihn. Der Anwalt gab ihm eine knappe und klare Antwort.
»Das zu entscheiden, obliegt Ihnen nicht.«
»Sie, hinter Ihrem Schreibtisch, haben gut reden. Aber sind Sie schon einmal einem Pädophilen begegnet? Haben Sie auch nur ein einziges Mal in Ihrem Leben einem Pädophilen direkt in die Augen gesehen?«
»Ja. Ich habe sogar einige dieser Menschen verteidigt«, antwortete er ruhig. »Rechtsanwalt Magnée ist ein Freund von mir. Sie kennen ihn bestimmt. Er hat Marc Dutroux verteidigt. Er hat einmal gesagt: ›Dutroux zu verteidigen heißt, Dutroux zu verstehen.‹«
»Spitzfindigkeiten!«
Der Anwalt schnitt ihm das Wort ab, indem er die Blätter der Akte vor sich verstreute.
»Wir sind nicht hier, um über die Frage zu diskutieren, wem ein Verteidiger zusteht und wem nicht. Ich habe die Akte genau unter die Lupe genommen, und ich sehe nur eine Lösung: Wenn Sie ohne allzu große Blessuren aus der Sache herauskommen wollen, müssen Sie Kommissar Kolbe fallenlassen.«
»Was?«
Broissard sah nicht mehr den Schreibtisch und auch nicht mehr den Mann dahinter. Nur noch eine gewaltige Mauer, in die er mit gesenktem Kopf hineinrannte.
»Der Anwalt desjenigen, der Strafanzeige gestellt hat, ist bekannt dafür, dass er unerbittlich ist, und er wird nicht klein beigeben. Er wird alle Hebel in Bewegung setzen, um Maxime Kolbe zu erledigen. Ihre einzige Chance besteht darin, Ihren Vorgesetzten zu belasten. Er hat die Ermittlungen geleitet. Sie haben lediglich seine Weisungen befolgt. Genauso wie Kommissar Musil.«
»Was hat Musil damit zu tun?«, ereiferte sich Broissard und sprang unverwandt auf.
Er erinnerte sich noch genau an den Kommissar aus Guéret. Ein Polizist, dessen Stern im Sinken war und der in diesem Fall die Gelegenheit gesehen hatte, endlich bei einer großen Sache mitzumischen. Er hatte ungefragt seine Hilfe angeboten, nur allzu froh, neben Maxime Schlagzeilen zu machen. Und jetzt fiel er um.
»Ich habe vorgestern mit seinem Anwalt gesprochen, und offenbar will Kommissar Musil ebenfalls Strafanzeige gegen Maxime Kolbe und Sie erstatten.«
»Und aus welchen Gründen?«
»Unterschlagung von Beweisen und Erpressung. Ich kann mich mit seinem Anwalt verständigen, damit er die Anschuldigungen gegen Sie fallenlässt und Sie zusammen mit ihm Anzeige erstatten.«
»Das ist doch völlig hirnrissig! Kommissar Musil wusste ganz genau, was er tat, glauben Sie mir!«
»Das bezweifle ich nicht. Nach Abschluss dieser Ermittlungen waren allerdings eine Frau und ihr Kind tot. Und jemand muss dafür bezahlen.«
»Aber das ist doch eine verkehrte Welt! Weder ich noch Maxime haben Fackeln angezündet und das Haus von Gérard Maurois in Brand gesteckt!«
»Diejenigen, die das Feuer gelegt haben, müssen sich vor Gericht verantworten, aber sie werden sich mit dem Hinweis verteidigen, dass sie dies nur wegen Ihnen und Ihrer
Weitere Kostenlose Bücher