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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Universität. Andere schwenkten auf den Treppen der Station Transparente und Schilder und verteilten Flugblätter für die Kundgebung am Nachmittag. Trotz der winterlichen Temperaturen begann die Mobilisierung. Mit roter Farbe bespritzte Fotos von Regierungsmitgliedern. Rauchbomben, in Rucksäcken verstaut. Schwarze Fahnen, unter Mänteln zusammengerollt.
    Vereiste Stellen und Fliesen waren unter den Beton-Arkaden der Universitätsgebäude kaum voneinander zu unterscheiden. Blandine ging an dem zentralen Innenhof entlang und folgte den Schildern. Laut Auskunft von Amandines Terminkalender hätte sie um diese Uhrzeit eine Lehrveranstaltung bei Professor Clarisse Katz gehabt, die ihre Diplomarbeit betreute. Sie verlief sich in endlosen Gängen, bevor sie den Hörsaal fand und die Tür aufstieß. Leise trat sie ein und setzte sich in eine der oberen Reihen. Eine elegant gekleidete, etwa dreißigjährige Frau hielt im kleinen Kreis eine Vorlesung. Etwa zwanzig Studenten schrieben fleißig mit.
    »›Erst Freuds Gewaltstreich führte uns vor Augen, dass das Unbewusste strukturiert ist und dass diese Struktur nach einer bestimmten Methode der Lektüre verlangt.‹ Was sagt uns dieses Zitat von Jacques Lacan? Damit werden wir uns in der nächsten Vorlesung beschäftigen. Vielen Dank.«
    Die Studenten erhoben sich unter dem Lärm von Ordnern, Gesprächen und Gelächter. Blandine wartete, bis der letzte Schwarm von Studenten aufhörte, Clarisse Katz zu belagern, ehe sie zum Pult hinunterging.
    »Frau Professor?«
    Die junge Frau wandte den Kopf in ihre Richtung und sah sie fragend an. Blandine stellte sich vor, während sie ihren Dienstausweis zückte und der Professorin vor die Nase hielt. Sie spürte ein leichtes Zucken in den Augen der Dozentin.
    »Es geht um eine Ihrer Studentinnen.«
    »Ich fürchte, dass ich Ihnen da nicht groß weiterhelfen kann. Ich kenne nicht alle Studenten, die meine Vorlesungen hören.«
    »Amandine Clerc.«
    Clarisse Katz dachte kurz nach und nickte.
    »Amandine ... Hochbegabt, eine brillante Studentin, wenngleich etwas subjektiv. Sofern dies überhaupt eine Schwäche ist.«
    »Was meinen Sie mit ›subjektiv‹?«
    »Nun ...«
    Sie hörte auf, ihre Unterlagen wegzuräumen, und suchte nach Worten, wobei sie sich auf die Unterlippe biss.
    »Sagen wir, dass sie in ihren Hausarbeiten etwas zu sehr ihrem Gespür vertraut. Ihre Sichtweise, ihre intuitiven Erkenntnisse sind stimmig und in sich schlüssig, aber dies geht gewissermaßen auf Kosten einer eher klinischen, wissenschaftlichen Herangehensweise, verstehen Sie?«
    Blandine verstand sehr gut. Sie befand sich mit ihrem Fall in einer ganz ähnlichen Lage. Fragen über Amandines seelisches Befinden brannten ihr auf der Zunge. Aber sie nahm sich zusammen und versuchte es lieber auf indirekte Weise.
    »Was war das Thema ihrer wissenschaftlichen Arbeit?«
    »Es ist bemerkenswert, dass Sie mir diese Frage stellen, denn ich wollte ihr die Arbeit gestern zurückgeben. Da ich sie nicht in der Vorlesung sah, habe ich sie einstweilen behalten.«
    Die Professorin öffnete ein Fach ihrer Tasche und nahm ein maschinengeschriebenes Schriftstück heraus. Sie blätterte die Arbeit mechanisch durch und hielt sie Blandine hin: » Der Platz des Kindes in der westlichen Gesellschaft: Entwicklungen, Einflüsse und Probleme seit den Anfängen der Psychoanalyse «.
    Die Frage Blandines erratend, räusperte sich Clarisse und zeigte auf das Dokument:
    »Ganz grob gesagt, geht Amandine von der Hypothese aus, dass das Kind in unserer westlichen Gesellschaft gewissermaßen König ist, dass unsere Gesellschaft also pädophil ist.«
    Bei diesem Wort schrillten bei Blandine die Alarmglocken. Ein Wort, das bei jedem Polizisten auf der schwarzen Liste stand, genauso wie »Mord« oder »Geiselnahme« und einige weitere.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe.«
    Clarisse stützte sich auf den Tisch auf, biss sich erneut auf die Unterlippe, ehe sie mit schleppender Stimme erklärte:
    » paidos ist griechisch und bedeutet ›Kind‹, und philos bedeutet ›Freund‹. Amandine ist von dieser etymologischen Definition ausgegangen und versuchte nachzuweisen, dass sich die Sichtweise des Kindes in der westlichen Gesellschaft seit den Freud’schen Entdeckungen stark gewandelt hat und daher auf Abwege geraten ist. Das heißt, dass das Kind heutzutage auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft – innerhalb der Familie, der sozialen Gruppe und des Gemeinwesens –

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