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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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war und an einen Schlachthof erinnerte.
    Der Gestank von Blut.
    Sie stürzte zum Bad, das rechts vom Schlafzimmer lag, und fand die Tür verschlossen. Durch die schmale Rille zwischen Tür und Boden fiel ein rosafarbener Lichtstreifen auf den Teppich.
    Mit der flachen Hand schlug sie heftig gegen die Tür und schrie:
    »Madame Clerc! Machen Sie die Tür auf! Polizei! Machen Sie auf!«
    Doch als Antwort erhielt sie nur ein beklemmendes Schweigen. Hektisch zog sie jetzt ihre Waffe und hielt sie in Höhe der linken Schläfe.
    »Machen Sie sofort auf!«
    Sie hielt den Atem an und zertrümmerte mit einem Tritt das Schloss. Sie stürzte hinein, aber eine Wolke von siedend heißem Dampf schlug ihr entgegen und zwang sie zum Rückzug.
    Mit dem Rücken an der Wand und schweißgebadet wartete sie etwa zehn Sekunden, in denen ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, dass, falls sich noch jemand da drinnen aufhalten sollte, es genügen würde, ins Blaue hinein in die Wand zu schießen, um diese Person abzuknallen.
    Nachdem sie bis zehn gezählt hatte, warf sie sich erneut in die Türöffnung, richtete ihre Pistole mit gestreckten, zitternden Armen aus und überstrich damit das in Finsternis getauchte Badezimmer. Sie rang nach Atem. Die mit Wasserdampf, Duschgel und Blut gesättigte Luft drang in ihre Bronchien und drehte ihr den Magen um. Sich den Mund mit einer Hand bedeckend, die Pistole noch immer in die dunkle Leere gerichtet, tastete sie zurückweichend nach dem Lichtschalter.
    Sie unterdrückte einen Schrei des Entsetzens.
    Der Strom ließ die Leuchtstoffröhre über dem Waschbecken knistern und enthüllte den Anblick einer nackten Frau in einem roten Schaumbad.
    Langsam ging sie über die von rotem Wasser überschwemmten Fliesen und beugte sich über die Leiche. Sie schob den Schaum beiseite und wich jäh zurück, als sie die bis zu den Knochen aufgeschnittenen Handgelenke der Frau sah.
    Hinter den Wänden verließen die Nachbarn ihre Wohnungen, aufgeschreckt durch den Schrei, den sie ausgestoßen hatte, ohne es selbst zu bemerken.
    Blandine bekam nichts mit von dem Tumult auf den Gängen.
    Sie hörte nur noch das Schlagen ihres Herzens.
    Der Anblick der Frau, die in ihrem Blut schwamm, blieb wie ein Nachbild vor ihrem inneren Auge stehen.

20
Paris,
Quai des Orfèvres 36,
Sondereinheit
    Léo hatte die Standbilder der Missbrauchsopfer aus Neverland ausgedruckt und sie an die Wand geheftet. Trotz der schlechten Qualität des Fotos erschütterte ihn der Anblick des Gesichts eines kleinen Mädchens. Es schaute ihn mit einem durchdringenden, unsicheren und zugleich kalten Blick an.
    Seine Nachforschungen über vermisste Kinder hatten nur indirekte Ergebnisse gebracht. Drei Beschreibungen von Kindern, die sich zwei bis drei Wochen vor der Entdeckung des Films in Luft aufgelöst hatten, trafen ungefähr auf Missbrauchsopfer zu, die im Film zu sehen waren. Zwar kannte er ihre Namen, hatte in der Vermisstendatei aber kein Foto gefunden. Das waren zweifellos Versäumnisse der Polizeireviere, die die Anzeigen online gestellt hatten. Die übliche, auf Inkompetenz zurückzuführende Nachlässigkeit, die jemanden das Leben kosten, die Arbeit der Ermittler erschweren konnte und ihn stinkwütend machte. Er las noch einmal die Akte über Julia Verno durch.
    Neun Jahre alt, in Clermont-Ferrand verschwunden. Zum letzten Mal gesehen am Square de La Jeune Résistance. Schwarze Mandelaugen. Stupsnase. Kinngrübchen. Schimmerndes braunes Haar. Leberfleck auf der rechten Schulter.
    Dieses letzte Detail hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als er die Personenbeschreibungen durchgegangen war. Eines der Mädchen in dem Film entsprach vage dieser Beschreibung, und ein Muttermal von der Größe einer Kaffeebohne war auf seinem Schulterblatt zu sehen. Doch das reichte nicht aus, um irgendeine triftige Schlussfolgerung daraus zu ziehen.
    Er schimpfte ein letztes Mal und machte sich eine Notiz, die ihn daran erinnern sollte, die Polizeidienststellen zu kontaktieren, die die Vermisstenanzeigen aufgenommen hatten. Er kritzelte in sein Notizbuch: zuallererst Fotos der Kinder auftreiben, um weniger zufallsabhängige morphologische Vergleiche vornehmen zu können. An seinem Schreibtisch sitzend, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Rechner. Eine Nachricht vom Diskussionsforum der NAMBLA blinkte auf:
    Bitte um ein privates Gespräch.
    Annehmen/Ablehnen.
    Jemand hatte angebissen. Er versuchte, seine Euphorie zu dämpfen, und klickte. Ein Fenster

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