Die elfte Geißel
um all ihren Mut zusammenzunehmen, die hundert Meter zurückzulegen, die sie von dem Wohnsilo der »Barre Balzac« trennten. Niemand zu sehen.
Nachdem sie an den ersten Gebäuden vorbeigegangen war, schloss sich die Cité wieder hinter ihr und umstellte sie mit riesigen Schatten, die von fahlen Lichtern durchsetzt waren. Sie ging weiter durch den dichten Nebel, mit gespitzten Ohren, auf Geräusche achtend, auf die verschiedenen Arten von Musik, die aus den Stockwerken ertönten und in dem Schwindel über ihrem Kopf verhallten.
Der Eingang und das Treppenhaus waren menschenleer. In einer Ecke lagen Jointstummel und gebrauchte Kondome herum. Als Blandine die Stufen hinaufging, wunderte sie sich darüber, dass Amandine zwischen diesen mit Graffiti besprühten, stockfleckigen und schimmeligen Mauern gelebt hatte. Das entsprach nicht dem Bild der empfindlichen Studentin, das sie sich von ihr gemacht hatte.
Auf dem Treppenabsatz des dritten Stocks angekommen, folgte sie dem gelblichen Schein der Wandleuchten in den Gängen. Gesprächsfetzen drangen aus den Wänden. Ein Paar fickte, untermalt vom Rhythmus des Bettrosts, der Schreie und dem Gelächter der Nachbarn. Den Schlägen auf den Hintern antworteten gereizte Stimmen in den benachbarten Wohnungen.
Eine Tür ging polternd auf, und Blandine presste sich an die Wand, den Finger am Abzug. Sie atmete nicht mehr. Die Person entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung. Falscher Alarm. Sie seufzte und ging vorsichtig weiter, während sie sich fragte, ob es nicht Zeit wäre, umzukehren.
In ihrer Tasche tastete sie nach ihrem Handy. Falls es schiefgehen sollte, müsste sie nur eine Taste drücken, um die Zentrale zu alarmieren. Aber irgendetwas drängte sie, weiterzugehen. Sie konnte jetzt nicht aufgeben. Nicht so nah am Ziel.
Sie blieb vor der Tür Nr. 25 stehen. Die Antworten, die sie suchte, befanden sich hinter der abgeblätterten Holztür. Drei Zentimeter zwischen ihr und der Wahrheit.Niemand auf dem Gang. Gesprächsfetzen, Streitereien und Lustschreie verschmolzen weiterhin zu einem wirren Gedröhn.
Blandine klopfte dreimal kurz und fest an die Tür. Keine Antwort. Sie hielt das Ohr an die Tür und klopfte etwas fester. Die Schläge hallten wider, und im Flur machte sich Stille breit. Sie unterbrach ihre Geste und verharrte reglos. Stimmen in den Wohnungen flüsterten. An Gucklöchern klapperte es. Blandine schloss die Augen und flehte die Frau im Geiste an, ihr aufzumachen. Ihre durch das Holster zusammengeschnürte Brust drohte zu platzen. Klirrende Vorhängeschlösser, die entriegelt wurden. Sie wühlte in ihrer Tasche und nahm ihren Hauptschlüssel. Die Türen beidseits des Flurs gingen quietschend einen Spaltbreit auf, als es ihr im letzten Moment gelang, in die Wohnung hineinzuschlüpfen und die Tür hinter sich zuzuschlagen.
Blandine wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie sah sich in dem Zimmer um, das von dem matten Licht, das durch die Rollläden sickerte, nur schwach erhellt wurde. Ein mit beigefarbenem Skai bezogenes Sofa, ein Zierdeckchen auf einem niedrigen Glastisch – eine billige, altmodische Einrichtung. Sie nahm die Küche in Augenschein und bemerkte, dass sie den Kolben ihrer Pistole noch immer nicht losgelassen hatte. Die feuchte, lautlose Atmosphäre zwang sie dazu, sich zu entspannen. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, ein säuerlicher Geruch, der von einem aufdringlichen Shampoo-Duft überdeckt wurde, der aus dem Badezimmer zu kommen schien. Langsam folgte Blandine dem Mentholgeruch ins Schlafzimmer. Sie streifte ihre Latexhandschuhe über und drückte den Schalter, worauf das enge Zimmer augenblicklich von Licht überflutet wurde.
Das Erste, was sie sah, war das schnurgerade Kruzifix aus Metall über dem Bett. Christus als Märtyrer zeichnete sich scharf gegen die nackte Wand ab. Auf dem Teppichboden lag nichts herum. Alles war feinsäuberlich aufgeräumt. Die pedantische Ordnung war auf die Spitze getrieben, als würde niemand zwischen diesen Wänden leben. Oder als wäre die Person, die hier wohnte, verreist.
Blandine wunderte sich darüber, dass die Fenster im Schlafzimmer beschlagen waren. Sie schaute sich um, konnte aber keinen Luftbefeuchter entdecken. Trotzdem klebte ihr die Jeans an der Haut. Gegen den Mentholgeruch kämpfend, der ihr zu Kopfe stieg, wollte sie gerade mit der Durchsuchung beginnen, als ihr aufging, was dieser Shampooduft überdeckte.
Ein anderer Geruch, der ihr wohlbekannt
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