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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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insgesamt als ein ›kleiner Erwachsener‹ betrachtet wird. Schlagworte wie ›alles für das Kind‹, ›das Kind ist König‹, aber auch hyperaktive Kinder sind nach Amandines Argumentation die sichtbarsten Folgen dieser Verirrung. Diese Folgen treten ihres Erachtens an die Stelle älterer sozialer Mechanismen wie Erbe und Weitergabe.«
    Blandine bemühte sich, der Argumentation zu folgen, um sie auf eine pragmatischere Logik zurückzuführen.
    »Amandine wirft das Problem auf, dass das Kind in unserer Gesellschaft ein Lustobjekt ist. Ihrer Meinung nach ist dies weitgehend auf jene Revolution im abendländischen Denken zurückzuführen, die Freud mit seinem Werk Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie auslöste.«
    Blandine erinnerte sich an das Buch, das auf dem Regal in der Dachkammer gestanden hatte. Sofort sah sie das Heft und die darin enthaltenen masochistischen Beschreibungen wieder vor ihrem inneren Auge.
    »Der Erwachsene projiziert seine eigenen Triebe, seine eigenen Konzepte von Sexualität auf das Kind, das er gleichzeitig übermäßig behütet«, sagte sie und warf einen Blick auf ihre Uhr. »Tut mir leid, Lieutenante, aber ich habe eine weitere Lehrveranstaltung. Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen.«
    Blandine schaute Clarisse Katz nach. Weshalb hatte sie sich mit keinem Wort nach dem Grund dieser Befragung erkundigt? Sie hatte sich nicht einmal erkundigt, ob Amandine etwas zugestoßen sei.
    Der Platz vor der Universität war menschenleer. Die Fassaden der Haussmann’schen Gebäude glichen einer von Schießscharten durchbrochenen Festungsmauer. Schrille Sirenen und vom Wind herangetragene Schreie erhoben sich hinter den Strebepfeilern. Der Widerschein einer Feuersbrunst umrahmte die Kuppel des Panthéon und schien Richtung Sorbonne zu wandern. Blandine eilte mit schnellen Schritten in die entgegengesetzte Richtung, um vor dem anschwellenden Lärm zu fliehen, und erreichte gerade den Platz vor dem Institut du Monde Arabe, als ihr Handy läutete.
    »Lieutenante Pothin?«
    »Ja.«
    »Ich habe die Adresse herausgefunden, um die Sie mich gebeten haben, die der Mutter von Amandine Clerc. Haben Sie was zu schreiben?«
    Sie kramte hektisch in ihrer Tasche und nestelte einen Kuli und ein Blatt heraus.
    »Sie wohnt in La Courneuve, 3. Stock des Tour Balzac, Wohnung Nr. 25. Die Gegend ist extrem gefährlich. Ich hoffe, Sie haben nicht die Absicht, allein dorthin zu gehen?«
    Blandine legt auf, ohne zu antworten.

19
La Courneuve,
Cité des 4000,
Mordkommission
    Der Wagen hüpfte auf der Ringautobahn, und die Scheibenwischer fegten die Graupeln beiseite, die gegen die Windschutzscheibe prasselten. Zu ihrer Linken lag Paris, das von dem sintflutartigen Wolkenbruch schier verschlungen wurde. Zu ihrer Rechten glichen die Hochhäuser von Aubervilliers einem Schattenspiel. Blandine fuhr über die Porte de la Villette in die Avenue Jean-Jaurès hinein.
    Die Cité der 4000.
    Graue Hässlichkeit.
    La Courneuve, das bis 1999 als das gefährlichste Viertel Frankreichs galt, wurde von Les Bosquets in Clichy-sous-Bois von seinem Spitzenplatz auf der roten Liste verdrängt. Als sich Blandine den Ausläufern der Cité näherte, heruntergekommenen Betonklötzen, denen sie die Spuren von Drogen, Raubüberfällen und Bandenkriegen anzusehen glaubte, schlug ihr Herz schneller. Feindliches Gebiet für einen Polizisten. Ein gefährliches Pflaster in Zeiten gewalttätiger Ausschreitungen.
    Die Cité war mit ihren Parabolantennen und ihren trüben Fenstern der Inbegriff von Armut und Elend. Die riesigen Mietskasernen glichen übereinandergestapelten Elendssiedlungen. Längs der Esplanade versperrten zerrissene Werbeplakate, die von einem Mosaik von Graffiti überzogen waren, den Blick auf eine verlassene Baustelle. Krumme Bäume säumten die Mauer.
    Sie parkte und stellte den Motor ab. Sie schnallte die Gurte der Revolvertasche enger, bis ihr die Brust wehtat, steckte die Waffe hinein und zog den Reißverschluss ihres Mantels hoch, um die Beule an ihrer Flanke zu kaschieren.
    Draußen verdichtete sich der Nebel. In ihrem Kopf stellte sie beunruhigende Gleichungen auf:
    Eine einzelne Frau bedeutet Gefahr.
    Polizist bedeutet Gefahr.
    Polizistin bedeutet allerhöchste Gefahr.
    Der Gedanke an die Vergewaltigung zweier Polizistinnen in Bobigny half ihr nicht, ohne zu zittern den Platz zu überqueren, an dessen anderem Ende die schwarzen Massen der Gebäude aufragten. Sie schob die Hand in ihren Mantel und umfasste den Kolben ihrer Waffe,

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