Die elfte Geißel
Rot wirkte neben dem Blau des Schwimmbeckens wie ein Blutfleck.
Das Bemerkenswerteste aber war, dass man ganz deutlich sah, dass dieses Haus von einer Familie bewohnt wurde. Ein Ehepaar und zwei Kinder beim Frühstück, beim Grillen oder beim Herumtollen im Schwimmbad. Banale Alltagsszenen. Trotzdem beschlich Blandine ein Unbehagen, die Fotos hatten etwas Voyeuristisches, als ob der Fotograf die stille Lebensfreude dieser Familie ausspionierte und ihre Intimität verletzte.
Sie versuchte dieses Gefühl zu vertreiben, doch ihr eigenes Eindringen in das Zimmer einer Toten verwies sie auf die »gestohlenen« Schnappschüsse. Sie richtete den Lichtkegel der Lampe auf die Regale. Schulbücher in den obersten Fächern. Ordner. Einige Romane.
Sie streifte Latexhandschuhe über und nahm einen Band heraus. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Sie musterte die Rücken der anderen Bücher. Der Briefwechsel zwischen Freud und Stefan Zweig. Der Medea-Komplex. Einführungen in die Psychoanalyse. Die Bibliothek einer Psychologie-Studentin.
Ordner voller Aufzeichnungen bestätigten die Hypothese. Eine dicke kartonierte Mappe enthielt den ganzen Papierkram – Mietvertrag, Überweisungsduplikate, Immatrikulationsbescheinigungen, Arztberichte, Rezepte, Rechnungen. Auf den Namen Amandine Clerc. Die Identifikation. Endlich. Bald würde man jetzt auch den Namen ihrer Mutter kennen.
Die Wäsche war zusammengelegt und weggeräumt. Unter der Matratze war nichts versteckt. Alles war tadellos, an seinem Platz. Diese sichtbare Ordnung passte nicht zu dem Sprung in den Tod. Oder aber diese große Sorgfalt war ein Symptom der psychischen Störung, an der das Mädchen litt, was die Hypothese eines Mordes entkräften würde. Dumme Mutmaßungen, dachte Blandine. Sie durchwühlte die Schränke und fand den Terminkalender der Studentin. Ihren Stundenplan. Klausurtermine. Allerdings auch, was schon ungewöhnlicher war, Adressen für Castings: Zone Films, UZI Production, Inside Talent.
Blandine setzte sich aufs Bett und konzentrierte sich; sie wollte die Profiler-Methoden anwenden, die sie gelernt hatte. Sie versuchte sich zu entspannen, um das Mädchen in ihrer Fantasie wiederaufleben zu lassen, sich anschaulich vorzustellen, wie es in dieser Wohnung gelebt hatte, wie es sich darin bewegte. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Sie machte einen neuen Anlauf, konzentrierte sich, sah sich in dem Zimmer um und nahm die Szenerie in sich auf. Ein dritter Durchgang. In einem halb hypnotischen Zustand kamen ihr die Einrichtung der Wohnung, die Wände, der Hängeboden immer vertrauter vor.
Beim fünften Durchgang bemerkte sie das Vorhängeschloss an der Wohnungstür. Es war neu, doch die gezahnten Ränder waren abgenutzt. Die junge Frau musste jedes Mal, wenn sie in die Wohnung kam, zweimal von innen abgeschlossen haben. Der Teppichboden war im Eingangsbereich heller, abgewetzt vom Hin-und-Her-Laufen. Blandine fiel auf, dass die Abnutzungsspuren einen schmalen Pfad von der Tür zur Küche beschrieben. Der Wasserkessel stand noch auf der Platte.
Assoziationen schossen ihr durch den Kopf. Die Psychologie-Studentin musste doch irgendwo ihre Träume aufgeschrieben haben. Sie durchsuchte abermals sorgfältig die Wohnung, fand allerdings nichts. Sie wollte schon die Hoffnung aufgeben, als sie in der letzten Schublade einer Kommode über den Einband eines Heftes strich. Lächelnd dankte Blandine ihrer Intuition.
Sie blätterte die Seiten durch, die mit einer zierlichen, engen Handschrift beschrieben waren. In den Alpträumen von Amandine Clerc trat ein Mann mittleren Alters mit unsichtbarem Gesicht auf, der sie quälte und demütigte. Gewisse Abschnitte enthielten exakte Beschreibungen, Sätze von einer klinischen Nüchternheit. Andere Absätze beschrieben Halluzinationen, schilderten, wie sie von Tentakel tragenden Ungeheuern anal penetriert oder von belebten Stofftieren vergewaltigt wurde. Auf hingekritzelten Zeichnungen war ein Haus mit runden Fenstern zu sehen, das dem Gebäude auf den Fotos zum Verwechseln ähnlich war. Vor dem Haus schwang eine obszöne Gestalt einen riesigen Penis.
Blandine glaubte keine Luft mehr zu bekommen, als sie auf der letzten Seite las: » Er wird mich eines Tages noch umbringen «
18
Paris,
Universität Jussieu,
Mordkommission
Aus dem Brutofen der Metro herauskommend, schlugen ihr kalte Luftwirbel entgegen, und der Rauch ihrer Zigarette wurde unsichtbar. Studenten drängten in die Bars im Umkreis der
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