Die elfte Geißel
Erklärungen gegenüber der Presse getan hätten.«
»Kein Richter wird ihnen das abnehmen!«
»Einem geschickten Anwalt könnte das durchaus gelingen.«
»Und Polizisten zu Sündenböcken machen! Es ist immer die gleiche Leier!«
Die Erwähnung der Tragödie von Jarnages beschwor Bilder herauf, vor denen sich Alain Broissard fürchtete. Er sah alles wieder vor sich: das Gesicht der Mutter, das einer schmerzensreichen Madonna glich, gebeugt über das verkohlte Gesicht ihres Kindes, die Augen durch die sengenden Flammen zu schwarzen Nüssen verschrumpelt, die Haut in eine dünne Ascheschicht verwandelt, die Muskeln verdreht, durch die Hitze geschrumpft, und der Körper geschwollen und stellenweise aufgeplatzt. Ihm wurde übel, und er öffnete das Fenster des Büros, um die Luft in vollen Zügen einzuatmen.
»Für das, was passiert ist, bin ich nicht verantwortlich ...«, sagte er.
»Sie nicht, aber Kommissar Kolbe.«
»Vergessen Sie es, ich könnte Maxime niemals verraten.«
»Es geht nicht darum, ihn zu verraten, sondern darum, sich das Gefängnis zu ersparen. Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie eine Freiheitsstrafe von vier Jahren erwartet, davon zwei ohne Bewährung?«
Alain Broissard hatte nicht die Kraft, mehr davon zu hören. Ohne sich zu verabschieden, schlug er die Tür hinter sich zu und eilte mit schnellen Schritten hinunter auf die Straße.
Gefängnis.
Der Schwall reiner Luft gab ihm nicht die innere Ruhe zurück, nach der er sich sehnte. Er konnte sich nicht damit abfinden, auf die gleiche Weise zu enden wie die Verbrecher, die er geschnappt hatte. »Eine Ironie des Schicksals«, wie Maxime zu sagen pflegte. Er könnte der vier Quadratmeter großen Zelle dadurch entrinnen, dass er Verrat beging. Was immer sein Anwalt davon hielt. Doch das war für ihn undenkbar. Maxime Kolbe war weit mehr als ein Vorgesetzter, weit mehr als ein Freund. Das, was sie zusammen durchgemacht hatten, all diese Prüfungen, diese ganzen abscheulichen Dinge, hatten sie auf immer aneinandergeschweißt. Nichts und niemand könnte daran etwas ändern.
Broissard blieb unvermittelt auf dem Gehsteig stehen. Die Sonnenstrahlen fielen schräg auf sein Gesicht. Er starrte direkt in die Sonne, bis er geblendet war. Er hatte das Gefühl, langsam von einer Würgschraube erdrosselt zu werden. Ihm blieb noch eine andere Möglichkeit, die er zu verdrängen versucht hatte. Aber jetzt kristallisierte sie sich immer deutlicher heraus und überstrahlte alles andere.
Falls du fliehen solltest, wirst du nie mehr zurückkehren können.
17
Paris,
Mordkommission
Die schneidende Luft verhinderte, dass Blandine sich in Gedanken verlor. Sie ging schneller, um die letzten Reste von Schläfrigkeit zu vertreiben.
Vor einem alten Eckhaus in der Rue Limé 27 blieb sie stehen. Auf den schmiedeeisernen Balkonen hatte sich Rost gebildet, der Schnörkel auf die Fassade gezeichnet hatte. Mit einem Hauptschlüssel, der eigentlich für Hausdurchsuchungen vorbehalten war, öffnete sie die Eingangstür. Sie musterte die Briefkästen in der Eingangshalle. Die der Dienstmädchenzimmer befanden sich nicht hier. Sie fand die Hintertreppe und stieg sie bis in den sechsten Stock hinauf.
Ein langer beigefarbener Flur. Nackte Glühbirnen, die an Kabeln hingen. Schmutzige Fenster, die auf einen Innenhof gingen. Sticker, die an Laibungen klebten. In allen Winkeln roch es nach kaltem Zigarettenrauch. Blandine näherte sich der Tür Nr. 6 und zog den Schlüsselbund heraus, den sie unter den persönlichen Sachen des Opfers entwendet hatte. Sie hörte das Klicken des Schlosses und trat vorsichtig ein.
Sie schaltete ihre Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel durch das Zimmer gleiten. Sie blieb an einer Wand hängen, an der Fotos angepinnt waren. Dann näherte sie sich den Bildern, auf denen das junge Mädchen neben einer älteren Frau lächelte, die Blandine für die Mutter hielt. Keine Spur von der jüngeren. Sie tauchte nirgendwo auf.
Anschließend richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Ansichten eines Hauses, das aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen worden war. Sie schienen zu unterschiedlichen Tageszeiten und an verschiedenen Tagen in Eile gemacht worden zu sein. Ein seltsames Haus mit ungewöhnlicher Architektur. Die Fenster im ersten Geschoss waren kreisrund, Bullaugen, die ein Schwimmbad von einem künstlichen Blau überragten. Blandine beugte sich dicht heran und bemerkte, dass die Haupttür rot war und nicht zu dem Ensemble passte. Dieses
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