Die elfte Geißel
etwas?«
Léo wich der Frage aus:
»In diesem Stadium der Ermittlungen kann ich nichts sagen.«
»Das heißt, Sie haben etwas ...«
»Können Sie mir die Akte faxen? Ich bin in meiner Wohnung.«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung wurde misstrauisch:
»An eine Privatperson? Nein, das darf ich nicht ...«
»Bitte, es eilt.«
»Tut mir leid, Lieutenant, ich darf wirklich nicht. Ich schicke es Ihnen in Ihr Büro. Sonst kann ich nichts tun.«
Er gab auf und nannte ihr die Nummer der Sondereinheit bei der Pariser Mordkommission.
»Eine letzte Sache, könnten Sie mir das Original faxen? Ich brauche unbedingt ein Farbfoto.«
Die Telefonistin schwieg einige Sekunden lang, ehe sie antwortete:
»Das ist merkwürdig, ich habe die Akte vor mir ... aber sie enthält kein Foto von Julia Verno.«
22
Paris,
Quai des Orfèvres 36,
Sondereinheit
Erschöpfte, angespannte Polizisten diskutierten mit Angehörigen verschiedener Gendarmeriebrigaden. Léo durchquerte das Kommissariat im Laufschritt.
Die Akte von Julia Verno lag bereits im Fax. Die Telefonistin in Clermont-Ferrand hatte die Wahrheit gesagt. In der Vermisstenanzeige war kein Foto des Kindes. Léo drehte das Blatt hin und her, er wusste nicht, wie er den leeren rechteckigen Rahmen interpretieren sollte. Als er genauer hinsah, bemerkte er, dass die oberflächliche Schicht des Papiers abgerissen worden zu sein schien, als hätte jemand Julias Foto absichtlich entfernt.
Er vertiefte sich in die Details ihres Verschwindens.
Um 17 Uhr verlässt sie die Schule. Das Klassenbuch und der Aufsichtsführende sind diesbezüglich eindeutig. Um 17.15 Uhr wird sie am Square de la Jeune Résistance gesehen. Sechs Augenzeugen. 18 Uhr: Anruf der Mutter bei Klassenkameradinnen. 18.30 Uhr: Die Polizei wird verständigt und beginnt umgehend mit der Suche nach dem vermissten Mädchen. Der erste Bericht wird um 20.30 Uhr fertiggestellt und um 21 Uhr an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.
Das Bemerkenswerteste war das fehlende Foto. Léopold verglich die Daten, die er der Datei vermisster Personen entnommen hatte, mit dem Bericht. Die Aussagen der Mutter und des Vaters vermittelten ein präziseres Bild von Julia als die Personenbeschreibung. Er stand unvermittelt auf und verließ das Büro.
Die Vernehmungszimmer waren besetzt. Er ging durch den Flur, der zu den Räumlichkeiten der Mordkommission führte. Ungeachtet der späten Stunde schien das ganze Stockwerk unter hohem Druck zu stehen. Ein Schnellkochtopf, der bis zur Weißglut erhitzt worden war. Jugendliche in Handschellen. Erschöpfte Beamte. Überlastete Ermittlungsrichter.
Er klopfte an die Tür eines Büros der Mordkommission. Eine Stimme brüllte:
»Was gibt’s?«
Er trat ein, ohne zu antworten, und stand unvermittelt zwei Brigadiers und einem Zeichner gegenüber, die sich über eine Skizze beugten. Die Rückseite eines Spionspiegels nahm einen Teil der rechten Wand ein, und in dem Nebenzimmer kaute ein etwa zwanzigjähriger junger Mann, der allein an einem großen Tisch saß, an seinen Nägeln.
»Was wollen Sie?«
»Ich bräuchte das Computer-Porträt eines verschwundenen Mädchens.«
Auf dem Papier nahm ein junger Franzose maghrebinischer Abstammung Gestalt an. Der Zeichner schattierte die Augen. Der Brigadier wandte den Blick von ihm ab, zündete sich eine Zigarette an und trat an den Spiegel.
»Scheiß Araber ...«, nörgelte er.
Der zweite Brigadier deutete auf die Tür, ohne von dem Blatt aufzusehen, auf dem der Zeichner die Porträtskizze erstellte.
»Wir sind beschäftigt.«
»Es ist dringend.«
»Hier ist alles dringend, und wir haben hier Wichtigeres zu tun, als uns mit einem Kind zu befassen, das von daheim weggelaufen ist.«
Er sprach in gereiztem Tonfall, und der Finger zeigte noch immer auf die Tür. Léo atmete tief ein und äußerte mit monotoner Stimme:
»Ich gehöre der Sondereinheit des OCLCTIC an, und ich habe allen Grund anzunehmen, dass das Mädchen, das ich suche, genau zu dieser Stunde vergewaltigt, gefoltert und vielleicht umgebracht wird. Wenn dies der Fall ist, müsst ihr die Ermittlungen führen. Aber vielleicht habe ich dann schon einen Bericht geschrieben, in dem ich klarstelle, dass ihr mir nicht helfen wolltet. Muss ich noch deutlicher werden?«
Seine Worte wurden mit einem langen Schweigen aufgenommen.
»Schon gut ... entschuldigen Sie, wir sind mit den Nerven ziemlich am Ende.«
Der zweite Brigadier hielt, wie zur Rechtfertigung, mehrere Skizzen
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