Die elfte Geißel
grotesk wie hirnrissig sind!«
Er wandte sich an Garcia und fragte mit aggressiver Stimme:
»Wussten Sie Bescheid?«
Paul Garcia biss sich auf die Lippen und nickte.
Rilk musste sich zusammenreißen, um nicht auszurasten.
Schweigend füllte er zwei Vordrucke aus, die er dem Beamten vom Dezernat für interne Ermittlungen hinhielt. Dieser las die Formulare aufmerksam durch und nickte zustimmend, bevor er sie an die beiden Polizisten weiterreichte.
»Dekret Nr. 86–592 über den Kodex der Dienstpflichten der Staatspolizei. Artikel 6: Jede Verletzung der Dienstpflichten, die in dem vorliegenden Kodex definiert werden, wird mit einer Disziplinarstrafe geahndet.«
Der Kommissar der Mordkommission komplimentierte sie barsch hinaus:
»Sie werden nicht suspendiert. In der gegenwärtigen Lage brauchen wir jeden Mann. Aber ich erteile Ihnen eine Rüge. Ihnen beiden. Es ist eine Warnung. Eine zweite wird es nicht geben. Und ich verbiete Ihnen, weiter an diesem Fall zu arbeiten. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
25
Paris,
Quai des Orfèvres 36,
Mordkommission
»Bist du sicher, dass du vorankommst?«
Als Antwort hielt Blandine ihrem Teamkollegen die Fotos von der Obduktion hin und las den Bericht mit lauter Stimme vor, auf die Ungereimtheiten hinweisend. Paul hatte sich ein gutes Dutzend Mal dafür entschuldigt, dass er sie nicht unterstützt hatte, und bemühte sich, Abbitte zu leisten.
Perplex ließ er seinen Blick über das Puzzle schweifen, das sie auf ihrem Schreibtisch ausgebreitet hatte, und versuchte, sich alle Details, alle Daten einzuprägen. In Gedanken verglich er die Erkenntnisse und die Indizien im Fall der toten Amandine mit denen in der Todessache Madame Clerc. Er konzentrierte sich auf diese vergleichende Lektüre und zog nervös an seiner Zigarette. Er blätterte erneut in dem Tagebuch des Mädchens und wandte sich Pothin zu.
»Glaubst du wirklich, dass diese Alpträume etwas mit ihrem Tod zu tun haben?«
»Ich bin mir sicher.«
»Nimm es mir nicht übel, aber es gibt keinen vernünftigen Grund, um einen solchen Zusammenhang anzunehmen. Du verlässt dich allein auf deine Intuition.«
»Du irrst dich. Ich habe für diesen Mord drei Profile erstellt. Entweder, es ist ein Verbrechen aus Leidenschaft, und sie wurden von einem Ex-Freund vor den Zug gestoßen. Doch ich habe bei Amandine nichts gefunden, keinen Brief, kein Foto, und das Gleiche gilt für ihren Computer – nichts, was darauf hindeutet, dass sie liiert war. Außerdem stellt sich die Frage, wieso sich ein verschmähter Ex in einem Passbildautomaten verstecken sollte. Und warum sollte er auch die Jüngere vor den Zug werfen? Das passt nicht zusammen. Die zweite Möglichkeit ist die eines Gelegenheitsmordes, wie bei einem Omnibusfahrer, der vorsätzlich Fußgänger umfährt. Er wählt sein Opfer aufs Geratewohl aus, tötet es, täuscht einen Unfall oder Selbstmord vor und verschwindet. Auf dem Video sieht man allerdings, dass Amandine mit dem Mann in dem Passbildautomaten spricht. Auch das passt nicht zusammen.«
Garcia nickte. Er fand diese zweite Hypothese ebenfalls wenig plausibel. Psychopathen und andere Geisteskranke waren im Allgemeinen keine großen Leuchten, sondern ungebildete, impulsive Menschen, fantasielose Schwachköpfe, deren öffentliches Bild durch Krimis und das kollektive Imaginäre schöngefärbt worden war. Zehn aufmerksame Zeugen – darunter ein hohes Tier der Mordkommission – zu täuschen, so etwas konnte keine Impulstat sein.
»Bleibt die dritte Möglichkeit«, fuhr Blandine fort. »Jemand, der sie kennt, unter dessen Einfluss sie steht und der ihr große Angst einflößt.«
Es gab noch eine Möglichkeit, dachte Paul, Blandine war völlig verrückt, und er war es ebenfalls, dass er ihr glaubte. Aber er behielt diese Möglichkeit für sich. Er nahm das Foto in die Hand – ja, sie sah Amandine so ähnlich, dass sie gut deren Schwester sein konnte.
»Kennst du noch immer nicht seinen Namen?«
»Nein. Keine Spur bei der Mutter oder bei Amandine. Keine Vermisstenanzeige, auf die die Personenbeschreibung zutrifft. Eine Unbekannte.«
»Hast du veranlasst, dass die DNA der beiden verglichen wird?«
»Wenn ich das tue, rückt mir Rilk auf die Pelle. Und der Rechtsmediziner hat die Hypothese, dass sie denselben Vater haben, bereits verworfen.«
»Halbschwestern?«
»Möglich. Aber in der Wohnung der Mutter deutete nichts darauf hin, dass sie noch ein Kind hatte.«
In Pauls Gehirn drehten sich die
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