Die elfte Geißel
viele Schattenzonen. Allzu viele Mutmaßungen. Rilk würde ihre Theorie vom Tisch wischen.
»Blandine! Blandine!«
Sie drehte sich auf dem Flur um und suchte mit den Augen denjenigen, der ihren Namen rief. Paul Garcia bahnte sich einen Weg durch das geschäftige Treiben.
»Ich habe gehört, was dir in der Cité des 4000 passiert ist. Ich habe dich doch gewarnt! Was hat dich nur dorthin getrieben?«, schrie er. »Hast du noch immer nicht begriffen, dass es nichts zu ermitteln gibt? Die Sache ist abgeschlossen! Suizid. Es war eindeutig Suizid. Es gibt kein mordendes Phantom in der Metro!«
»Das führt weit darüber hinaus ...«
»Das führt nirgendwo hin! Der Tod der beiden Mädchen ist doch nur ein Vorwand für dich!«
»Was?«
»Begreif doch endlich! Jeden Morgen hast du geklagt, du wüsstest nicht, weshalb du aufstehst! Du brauchtest einen Grund, egal welchen, um dich nützlich zu fühlen! Du bist wie eine dieser Frauen, die ein Kind wollen, weil sie nicht wissen, was sie aus ihrem Leben machen sollen! Ich habe dich gedeckt, da ich geglaubt habe, du würdest es selber schnallen. Aber jetzt kann ich nichts mehr für dich tun.«
Er wiederholte: »Ich kann nichts mehr für dich tun«, und blieb vor dem Büro von Kommissar Jean-François Rilk stehen.
»Scher dich zum Teufel, Paul«, fuhr sie ihn an.
Sie richtete sich auf, atmete ruhig ein und aus und klopfte dreimal. Ohne die Antwort abzuwarten, trat sie ein.
Die Fassade, die sie errichtet hatte, wäre beinahe zusammengebrochen, als sie sah, dass der Kommissar, hinter dem schweren Schreibtisch, auf dem sich Berge von Papier stapelten, sich mit einem Lieutenant des Dezernats für interne Ermittlungen unterhielt, der den Spitzname »das Fallbeil« trug. Sie spürte die Hand von Paul Garcia in ihrem Kreuz, er schubste sie kräftig und hinderte sie daran, zurückzuweichen. Sie stammelte Entschuldigungen, die Rilk mit einer gereizten Geste vom Tisch wischte, und befahl ihr in schroffem Ton, die Tür zu schließen.
Das Fallbeil eröffnete die Feindseligkeiten, indem er ihnen einen Bericht über einen Totschlag in einer Bank in Bercy Village überreichte, der von ihnen beiden unterzeichnet war. Blandine sah, dass Paul unten auf der Seite ihre Unterschrift nachgemacht hatte, und bemühte sich, keinerlei Gefühlsregung zu zeigen. Jean-François Rilk sprach mit honigsüßer Stimme:
»Ich habe es durch einen Anruf beim Leitenden Kommissar des Dezernats zur Bekämpfung der Bandenkriminalität, der in diesem Fall die Ermittlungen leitet, überprüft ...«
Blandine analysierte die Situation in aller Eile. Das, was auf dem Spiel stand, ihre Karriere, erschien ihr bald lächerlich, bald wesentlich. Der Bär fuhr mit dem Finger über das Metallband, in das ihr Name und ihr Dienstgrad eingraviert waren.
»Leider musste ich erfahren, dass Pothin sich nicht nur nicht bei ihm vorgestellt hat, sondern auch die Dreistigkeit besaß, die Berichte zu unterschreiben.«
Paul Garcia trat vor, um die Frau, die seinem Team angehörte, zu verteidigen:
»Ich möchte sagen ...«
»Schweigen Sie, Garcia!«, donnerte Rilk, mit der Faust auf den Tisch schlagend, wobei die Gegenstände, die sich dort befanden, umfielen. »Wir haben auch noch eine Rechnung offen«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen, um ihm deutlich zu verstehen zu geben, dass er bald an der Reihe wäre.
Der Kommissar hielt den Bericht der Zivilfahnder hoch.
»Und das? Was ist das denn? Zwei Polizisten im Krankenhaus Ihretwegen! Zweiundzwanzig Autos abgefackelt seit Ihrem Flop!«
Die kleine Versammlung wartete in gespanntem Schweigen, dass Blandine das Wort ergriff:
»Ich habe eine Leiche gefunden ...«
Rilk starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als hätte er sie nicht richtig verstanden.
»Ich habe genügend Beweise, um den Fall neu aufzurollen.«
»Verdammt noch mal, was für einen Fall?«
»Die beiden Mädchen, die vor die U-Bahn gestoßen wurden. Die Leiche in der Cité des 4000 war die Mutter des älteren der beiden Mädchen ...«
»Was sagen Sie da? ›... die gestoßen wurden‹?«
Dem Kommissar platzte der Kragen, und er schlug ein weiteres Mal auf seinen Schreibtisch.
»Halten Sie mich für blöd, Pothin? Ich war da, als sich die beiden Mädchen vor den Zug geworfen haben! Ich habe sie gesehen! Eine jugendliche Spinnerei! Sonst nichts. Ich verstehe nicht, wie einer meiner Mitarbeiter seine Zeit damit verplempern kann, weiß Gott was zu tun und Theorien aufzustellen, die ebenso
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