Die elfte Geißel
karge Einrichtung des Schlafzimmers und die Unebenheiten in der Tapete. Kein Tresor, der sich unter der Tapete versteckte, kein Wandschrank, keine geheime Tür.
»Haben die Leute von der Spurensicherung die Möbel verschoben?«
»Nein, niemand hat etwas angerührt.«
Garcia ging in die Küche und holte den Mülleimer unter dem Spülbecken heraus. Er sichtete den Abfall und rekonstruierte die letzten Stunden der Selbstmörderin. Stunden ohne Extravaganzen. Das Henkersmahl: Ravioli in Tomatensoße, als Dessert Brombeer-Joghurt.
»Ich glaube, ich habe etwas«, sagte er und zog einen halb zerfetzten Plastikbeutel heraus.
Darin: aus einem Album herausgerissene Familienfotos. Paul breitete sie auf dem rot gemusterten Linoleum aus. Amandine war auf etwa dreißig Aufnahmen zu sehen, allein oder mit jeweils anderen Freundinnen.
»Glaubst du, dass man eine dieser jungen Frauen ausfindig machen könnte, um sie zu befragen?«
»Schwierig, bei den Studentenstreiks und dem allgemeinen Chaos an den Universitäten. Habt ihr irgendwelche Telefonnummern in ihrem Taschenkalender gefunden?«
»Keine von ihren Kommilitoninnen.«
Garcia leerte den Rest des Beutels aus, ohne etwas anderes zu finden.
»Sieht so aus, als wollte ihre Mutter kein Andenken zurücklassen.«
»Sie hatte Zeitung gelesen«, bemerkte er, als er eine zusammengeknüllte Zeitung fand. Unwillkürlich entfaltete er sie.
»Merkwürdig. Sieh dir das mal an.«
Der Artikel und das Foto von der Titelseite waren herausgerissen worden.
»Was hat das zu bedeuten? Sie hat diese Seite mit den Fotos behalten. Warum?«
»Ich habe keine Ahnung. Die Abiturfeier ihrer Tochter? Die Überreichung eines Preises?«
»Und wo ist der Rest?«, fragte Blandine, nachdem sie das Loch in dem Blatt erblickt hatte.
»Da habe ich vielleicht eine Idee. Gib mir bitte mal den Obduktionsbericht.«
Garcia deutete im rechtsmedizinischen Gutachten auf die Zeile mit dem Mageninhalt.
»Mist. Glaubst du, dass sie es gegessen hat, bevor sie sich umbrachte?«, fragte Paul.
»Wenn dem so ist, dann war diese Frau entweder völlig übergeschnappt oder total blau.«
»Blandine, hast du die Telefonnummer von dem Rechtsmediziner?«
Sie suchte in ihrem Adressbuch nach der Nummer des Instituts für Rechtsmedizin.
»Hallo? Lieutenante Pothin. Ich muss dringend mit Professor Firsh sprechen.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann ... haben Sie einen Moment Geduld.«
Die Telefonistin stellte den Anruf durch. Nach mehrmaligem Läuten ertönte am Ende der Leitung die Stimme des Rechtsmediziners:
»Blandine, ich bin sehr beschäftigt ...«
»Entschuldigen Sie, Herr Professor. Nur eine Frage. Ich arbeite gerade an dem Fall der Familie Clerc, und ich wollte wissen, was für eine Art Papier sich im Magen der Mutter befand ...«
»Die Schnipsel waren bereits stark abgebaut, aber die Prozentsätze an Holz und Druckfarbe deuten darauf hin, dass es sich um Zeitungspapier handelt.«
»Ich danke Ihnen, Herr Professor«, sagte sie und legte auf.
»Und? Hat er es bestätigt?«, fragte Paul.
»Stéphane Firsh ist sich ganz sicher. Glaubst du, dass uns das weiterhilft?«
»Was immer auf diesem Wisch gestanden hat, das musste für sie wichtig sein. So wichtig, dass sie es verschlungen hat, bevor sie sich umbrachte.«
Paul hielt das Blatt in die Nähe des Kronleuchters, und im Licht der Glühbirne zeigten sich halb ausgeblichene kleine schwarze Ziffern.
»Ich glaube, da steht ein Datum, 2001. Der Rest ist unleserlich. Die Tinte ist zu stark verlaufen.«
»2001«, wiederholte Blandine. »Das Jahr, in dem ihr Ehemann Selbstmord beging. Ich werde im Labor der Kriminaltechniker vorbeischauen – vielleicht wissen sie ja mehr. Kommst du mit?«
»Nein, es bringt nichts, wenn ich mitkomme. Ich werde versuchen, etwas mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Hast du die Adresse ihres letzten Arbeitgebers?«
»Ja, ein Altersheim im 1. Arrondissement.«
»Ich komme nach, sobald ich fertig bin.«
Blandine lächelte ihn an und küsste ihn.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie.
»Ich dich auch, Prinzessin.«
33
Autobahn A16,
Sondereinheit
In der Dunkelheit, die von der Morgenröte aufgehellt wurde – einer rosa marmorierten königsblauen Lavur –, ließ ein Knall einen Schwarm Vögel aufstieben. Alain Broissard hielt den Atem an und drückte auf den Abzug. Eine weitere Flasche zersprang in tausend Scherben. Er legte die glühende Glock auf die Motorhaube seines Wagens. Carrère pfiff voller Bewunderung,
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