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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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dazu, den Asphalt zu fixieren, überzeugt davon, dass ihn die Papieraugen verfolgten.
    »So kommst du mir nicht davon, ich will Details«, entfuhr es Blandine höchst erregt. »Wo bist du Montoya begegnet? Und weshalb hast du es mir nie erzählt?«
    »Ich darf nicht darüber sprechen.«
    »Wieso? Waren das verdeckte Ermittlungen?«
    »Nein, nichts dergleichen. Aber glaub mir, wenn ich könnte, würde ich dir alles erzählen«, fiel er ihr brüsk ins Wort.
    »Sag mir wenigstens, für welche Abteilung du ...«
    »Interpol. Ich habe beim Drogendezernat gearbeitet. Ich hatte einen meiner Kameraden ins Umfeld von Montoya eingeschleust. Mehr kann ich dir wirklich nicht sagen.«
    Blandine schwieg und betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sie hatte ihn noch nie in einem solchen Zustand gesehen. Und vor allem entdeckte sie einen geheimen Absatz in seiner Biografie, eine verschleierte Zone, schwarz auf schwarz, seiner Vergangenheit. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die ihren Partnern alles sagen, die, gemäß den hehren Grundsätzen totalen Vertrauens und völliger Verschmelzung, ihr Innerstes offenlegen. Vieles von ihr, ihren Eltern, ihrem Leben vor der Polizei wusste Paul nicht, er wusste nicht einmal, warum sie zur Polizei gegangen war. Doch das alles war nichts im Vergleich zu einer verdeckten Operation von Interpol.
    Nur mit Mühe konnte sie die Augen von dem Werbeplakat abwenden. Jésus Miguel Montoya stand im Verdacht, ein Halsabschneider, ein Mafioso, ein Mistkerl zu sein. Das pfiffen die Spatzen von den Dächern. Auf dem Plakat aber war er ein freudestrahlender Geschäftsmann, ein internationaler Finanzmagnat. Er symbolisierte die raffinierte Revanche der armen Länder, die die Kalaschnikow und die rote Fahne gegen die gleichen Waffen eingetauscht hatten, die ihre Unterdrücker von gestern einsetzten. Montoya war ein integraler Bestandteil dieser Welt. Er verkörperte diese Welt. Und aus diesem Grund war der Slogan seines Unternehmens von einem widerwärtigen Zynismus.
    »Könnten wir vielleicht auf unseren aktuellen Fall zurückkommen?«, fragte Paul, der nervös an seiner Zigarette zog. »Was wissen wir über die Mutter?«
    Blandine nahm eine kartonierte Aktenmappe vom Armaturenbrett und hielt sie ihrem Kollegen hin.
    »Ich habe den Bericht der polizeilichen Voruntersuchung. Er ist ziemlich kurz. In ihrem Umfeld wurde überhaupt nicht ermittelt. In administrativer Hinsicht habe ich etwas Interessantes gefunden. Sie arbeitete als Altenpflegerin. Sie war verheiratet.«
    »Geschieden?«
    »Nein, ihr Mann ist 2001 verstorben. Er hat als Buchhalter bei einer Fastfood-Kette gearbeitet. Aber du kommst nie darauf, wie er zu Tode kam.«
    »Unter einer U-Bahn?«, vermutete er, ohne den Blick von der grauen Zunge der Straße abzuwenden.
    »Fast. Er hat sich von einer Brücke auf die Autobahn geworfen. Ihre einzige Tochter, Amandine, war gerade zwölf Jahre alt.«
    »Weiß man, warum er das getan hat?«
    »Nach dem damaligen Bericht hatte er psychische Probleme aufgrund eines traumatischen Erlebnisses. Die Familie war gerade nach La Courneuve umgezogen.«
    »Vielleicht hat er die Atmosphäre dort nicht ertragen. Ist bekannt, wo sie davor wohnten?«
    »Nein, ein schwarzes Loch. Amandine hat dort bis zum Abitur die Schule besucht. Ich habe einen Kollegen gebeten, sich ihre Zeugnisse im Rektorat zu besorgen.«
    Garcia durchforstete das Konvolut von Papieren.
    Die Reklametafeln wurden seltener und wichen riesigen hintereinandergestaffelten Mietskasernen.
    »Und welche Schule hat sie vor dem Umzug nach La Courneuve besucht?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe kein Dokument gefunden. Am erstaunlichsten ist allerdings, dass ich im Archiv des Unterrichtsministeriums angerufen habe, und auch sie haben nichts gefunden. Ab der dritten Klasse hat sie nachweislich das Collège Georges Politzer und anschließend das Lycée Jacques Brel besucht – aber davor ist ihres Wissens keine Amandine Clerc in Frankreich zur Schule gegangen.«
    La Courneuve.
    Die Cité des 4000.
    Katastrophengebiet.
    Sie drehten fünf Runden, bevor sie abseits der Straße auf einem unbebauten Grundstück parkten. Ohne Dienstauftrag und faktisch sogar vorübergehend suspendiert, ließ Garcia seine Waffe lieber im Futter des Sitzes stecken. Blandine behielt die ihre bei sich.
    Von der Cité schien alle Anspannung abgefallen zu sein, doch die Ruhe, die jetzt herrschte, war viel beunruhigender. Sie gingen über den großen Platz, der zum Wohnblock »Balzac« führte.

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