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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Immer der gleiche Mist, die gleiche Not, überall Elend. Kinder plärrten und schubsten sich um eine zerbeulte Dose, mit der sie Fußball spielten. Die beiden Polizisten gingen schneller und flüchteten sich in die Eingangshalle. Blandine ging voran durch Korridore, über Treppen, ein heruntergekommenes Labyrinth, bis zur Wohnung.
    Garcia riss das Amtssiegel ab. An seinem Schlüsselbund suchte er den Hauptschlüssel und entriegelte das Schloss. Blandine ging vorsichtig in die Dunkelheit hinein. Die Einrichtung war nicht beschädigt. Nichts schien verrückt worden zu sein. Garcia drückte sein Ohr an die Wand. Kein Lärm im Flur. Niemand hatte sie gesehen.
    Blandine warf einen Blick in die Küche, bevor sie mit einer Geste zu verstehen gab, dass alles in Ordnung sei. Garcia betätigte den Lichtschalter, und ein graues Licht erhellte das Wohnzimmer. Halbleere Becher lagen verstreut auf dem niedrigen Tisch, Spuren des überstürzten Aufbruchs am Vortag. Blandine betrachtete die Cité, die in der Morgenröte noch grauer wirkte.
    Badezimmer. Keine Fenster. Blandine konzentrierte sich auf den Bericht der Spurensicherung, um sich nicht von der Klaustrophobie anstecken zu lassen. Nur mit Mühe konnte sie den Blick von der weiß gekachelten Wand hinter der Badewanne abwenden. Ihre Stimme zitterte leicht.
    »Eine einzige Serie von Fingerabdrücken. Alle stammen von Amandines Mutter. Nach einer flüchtigen Prüfung haben sie nichts gefunden, was auf die Anwesenheit einer anderen Person hindeutet.«
    Paul strich mit einem Finger durch die schwarzen Pulverreste an den Rändern des Waschbeckens. Er blätterte in den Fotos von der Frau, die in ihrem Schaumbad lag.
    In dem Obduktionsbericht von Dr. Stéphane Firsh stand, dass im Mageninhalt keine Spuren chemischer Substanzen nachweisbar gewesen seien. Aber er hatte – ein seltsames Detail – von den Magensäften kaum verdaute Papierschnitzel gefunden. Keine Einstichstellen an den Armen. Nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, war das Blut langsam aus ihr herausgelaufen. Das Ausbluten hatte etwa eine halbe Stunde gedauert.
    Ein Selbstmord.
    Blandine steckte den Stöpsel ins Abflussloch der Badewanne und drehte das heiße Wasser auf. Sie verließen das Bad, wobei sie sorgfältig darauf achteten, die Tür zu schließen und mit einem Handtuch den Spalt unter der Tür abzudichten.
    Nach einigen Minuten quoll Dampf unter der Tür heraus. Blandine schloss die Augen. Das Bild der in rotem Schaum schwebenden Leiche wurde in ihrem Kopf immer größer. Eine Urangst überfiel sie und ließ sie keinen klaren Gedanken fassen. Jäh riss sie die Tür auf und stürzte ins Dunkel, dann betätigte Paul den Lichtschalter.
    Das makellos reine Zimmer wurde in helles Licht getaucht.
    Ein intensives Weiß.
    Blandine hatte sich nicht getäuscht. Sie hatte tatsächlich etwas gesehen, als sie das Bad zum ersten Mal betreten hatte. An der Wand erkannte man im feuchten Beschlag einen Schriftzug. Amandines Mutters hatte eine letzte Nachricht hinterlassen, bevor sie ihrer Tochter in den Tod gefolgt war.
    Ein Luftzug fuhr ins Badezimmer, und im Handumdrehen verschwand die Inschrift. Hinter Blandine wiederholte Garcia mit lauter Stimme:
    »ER hat uns wiedergefunden. Uns Verdammte.«

32
La Courneuve,
Cité des 4000,
Mordkommission
    Blandine torkelte ins Schlafzimmer. Sie verstand nichts mehr. Immer dieses »ER«, da, irgendwo, immer näher kommend und doch ungreifbar weit weg. Hatte sich Madame Clerc aus Kummer oder aus Angst umgebracht?
    Welche Gefahr schwebte über dieser Familie?
    Ein Vater, der seit Jahren tot war. Ein als Selbstmord kaschierter Mord an der Tochter. Zusammen mit einer Unbekannten, die zehn Jahre jünger war als sie. Und jetzt die Mutter. Diese makabre Folge von Ereignissen war von irgendjemandem oder irgendetwas angestoßen worden. Doch dieser »ER« könnte durchaus auch nichts als eine Wahnvorstellung sein.
    Blandine zwang sich dazu, im Geiste Linien zu ziehen, Achsen zuzuschneiden, alle Möglichkeiten zu berücksichtigen. Aber auch wenn sie sich den Kopf zermarterte, verschwamm ihr alles vor dem inneren Auge.
    Erschöpft öffnete sie die Wandschränke und die Schubladen und machte eine weitere Bestandsaufnahme, ohne etwas Neues herauszufinden. Sie seufzte. Ein Schritt nach vorn und zwei Schritte zurück. Dieser Fall erwies sich als verwickelter, als sie gedacht hatte. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie ihren auf dem Bett sitzenden Teamkollegen, musterte die äußerst

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