Die elfte Geißel
willen ...«, stammelte sie. »Wie ist das passiert?«
»Gestern, in ihrer Wohnung. Sie hat Selbstmord begangen.«
Die Frau schwieg, und ihre Augen lösten sich von dem Polizisten, um sich auf das Spiel von Licht und Schatten auf den Büschen und Sträuchern des Gartens zu konzentrieren. An dem unregelmäßigen Heben und Senken der Brust erkannte Paul, dass die Frau gegen die Tränen kämpfte, entschlossen, dem Impuls nicht nachzugeben und den Kummer in ihrem Herzen zu ersticken.
»Ich versuche die Umstände ihres Todes aufzuklären«, fuhr er mit sanfter Stimme fort. »Und deswegen will ich mir ein Bild von ihrer Person machen.«
Sie atmete tief ein und wandte sich zu ihm hin, wobei ein melancholisches Lächeln ihre Mundwinkel umspielte.
»Sie war eine wunderbare, sehr diskrete Frau. Sie hatte immer Zeit und ein offenes Ohr für andere.«
»Wissen Sie, warum sie gekündigt hat?«
»Sie hat mir gesagt, sie wolle ins Ausland gehen, die Welt entdecken.«
Paul runzelte die Stirn. Das passte nicht zu dem Profil, das er sich ausgemalt hatte.
»Hat sie Ihnen gesagt, wohin sie gehen wollte?«
»Nein, sie ist nach Dienstschluss in dieses Büro gekommen und hat mir gesagt, dass sie traurig darüber sei, uns zu verlassen. Wenn sie allerdings jetzt nicht gehe, hätte sie vielleicht nie mehr die Kraft, einen solchen Entschluss zu fassen. Natürlich versuchte ich sie zu überreden, zu bleiben, aber, wissen Sie, ich konnte sie auch verstehen. Es ist anstrengend, hier zu arbeiten. Man darf keine enge Bindung zu unseren Bewohnern aufbauen, sonst verliert man jedes Jahr Freunde. Trotzdem ist es so, dass man sich ihnen mit jedem Jahr näher fühlt.«
»Hat Corinne Clerc an diesem Tag einen angespannten, besorgten Eindruck auf Sie gemacht? So, als hätte sie Angst vor etwas oder jemandem?«
»Soweit ich mich erinnere, ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Glauben Sie, ihr Weggang war eine Flucht?«
»Ich weiß es nicht«, gestand er. »In ihrer Wohnung haben wir Anhaltspunkte dafür gefunden, dass sie vielleicht verfolgt wurde. Haben Sie Verhaltensänderungen bemerkt? Zum Beispiel nach Telefonaten?«
»Jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich insbesondere an einen Abend. Das liegt schon einige Jahre zurück. Einer unserer ältesten Bewohner war gerade gestorben, und wir hatten uns im Speisesaal versammelt, um zu versuchen, auf andere Gedanken zu kommen. Ich erinnere mich, dass Corinne mir vom Freitod ihres Mannes erzählte. Ich erinnere mich noch so genau daran, weil sie zum ersten Mal von ihm sprach. Sie drückte sich etwas seltsam aus, sodass ich den Eindruck bekam, eine Person oder ein Ereignis hätten ihn in den Selbstmord getrieben.«
»Könnten Sie etwas genauer sein?«, fragte er.
»Nein, tut mir wirklich leid. Wir hatten alle ein bisschen getrunken, das sage ich Ihnen ganz offen, und ich habe das Thema ihr gegenüber nicht wieder zur Sprache gebracht. Ich habe es bei ihrer Tochter probiert, da ich mir Sorgen wegen Corinne machte, doch sie hat mich freundlich abblitzen lassen.«
»Kannten Sie Amandine?«
»Natürlich, sie kam oft hierher, um zusammen mit ihrer Mutter zu essen. Aber da fällt mir ein, dass das arme Kind mit den Nerven völlig am Ende sein muss.«
Garcia hütete sich, ihr von Amandines Tod zu erzählen. Das wären zu viele schlechte Neuigkeiten an einem Tag.
»Haben Sie zufälligerweise Gespräche zwischen den beiden mit angehört, die uns auf die richtige Spur bringen könnten?«
»Es ist nicht meine Art, Gespräche anderer Menschen zu belauschen!«
»Das wollte ich damit auch nicht andeuten«, entschuldigte er sich. »Haben sie sich nie vor Ihnen gestritten?«
»Doch, einmal. Es ging um das Mädchen, das Corinne bei sich aufgenommen hatte.«
»Moment mal, was für ein Mädchen?«
Ein Hitzeschauer durchlief den Polizisten von oben bis unten.
»Nola oder Lola, ich weiß es nicht mehr. Ein süßes Mädchen mit strohblondem Haar. Ein echter kleiner Engel. Sie sah Amandine sehr ähnlich. Abgesehen von dem Altersunterschied hätte man sie für Zwillingsschwestern halten können.«
Eine bedeutende Enthüllung ahnend, beugte sich Paul vor und sprach leise, jedes Wort deutlich hervorhebend, um seiner Gesprächspartnerin zu verstehen zu geben, dass ihre Antwort überaus wichtig wäre.
»Hat Madame Clerc Ihnen gesagt, wer dieses Mädchen ist?«
»Sie hat mir nur gesagt, dieses Kind hätte Probleme und es sei ihr aufgetragen worden, es bei sich aufzunehmen.«
»Aufgetragen von wem?«,
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