Die elfte Geißel
hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter, um ihm mitzuteilen, was sie herausgefunden hatte.
Das Gebäude, in dem sich das Redaktionsbüro des Privé befand, war ein gesichtsloser achtgeschossiger Block von verwaschener kastanienbrauner Farbe, der zur Straße hin von Palmen und Liguster gesäumt wurde. Es waren nur wenige Menschen in der Umgebung. Sie sah sich die Briefkästen in der Eingangshalle an.
Le Privé: erster Stock links.
Streik. Blutbad. Martyrium. Im Wartezimmer hörte Blandine auf, die Schlagzeilen zu lesen, die um sie herum tanzten.
»Was wünschen Sie?«
Blandine hörte eine sanfte Stimme. Ein etwa dreißigjähriger Mann in einem eleganten Anzug starrte sie durch eine elegante Brille an.
»Ich würde gern den Chefredakteur sprechen.«
»Das bin ich selbst. Was kann ich für Sie tun?«
Ihre Überraschung ließ ihn lächeln. Sie hatte eine Karikatur von Journalist erwartet – zwielichtig, mit Wampe, schmutzigem Hemd und Zigarre. Sie fragte sich, was diesen scheinbar feinsinnigen Mann wohl dazu veranlasst hatte, jenen Müll zu schreiben, den Le Privé veröffentlichte.
»Ich bin auf der Suche nach dem Heft, das am 23. Juni 2001 erschienen ist.«
Der Chefredakteur zuckte nicht mit der Wimper und starrte sie weiterhin an, sodass Blandine hinzufügte:
»Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben, und als ich ihre Sachen sichtete, habe ich das hier gefunden.«
Sie hielt ihm eine Fotokopie des Zeitungsausschnitts hin. Der Mann lächelte sie freundlich an:
»Mein Beileid. Ich nehme an, Sie wollen wissen, aus welchem Artikel dieses Blatt ist.«
Sie durchquerten ein geräumiges Zimmer. Hinter Trennwänden waren fünf Journalisten in ihre Arbeit versunken. Blandine sah offensichtlich gestohlene Aufnahmen von Tatorten und Obduktionen sowie Polizeiberichte, die an der Wand hinter Computerbildschirmen klebten – die interessanten Passagen rot markiert. An den Wänden die gleichen Schlagzeilen, die gleichen Schnappschüsse.
Der Chefredakteur ging vor ihr her in einen angrenzenden Raum. Das Archiv. Regale brechend voll mit Akten. Er strich mit dem Finger über den Deckel dicker Ordner und zog einen heraus, der mit dem Etikett »2001« versehen war.
»Spannende Lektüre.«
Blandine antwortete nicht. Sie starrte wie hypnotisiert auf den Ordner, der auf dem Heft vom 23. Juni aufgeschlagen war. Die Titelseite zeigte einen Polizisten, der aus einem schwarzen Tunnel herauskam. Er sah mitgenommen aus und trug in seinen Armen ein kleines Mädchen. Darunter stand: AUS DER HÖLLE INS LICHT. – Ein Mädchen wurde in der Metrostation Haxo gerettet.
Blandine blätterte hastig die Seiten um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie das Zeitungsfragment auf die Seite sechs legte. Es fügte sich perfekt ein. Als sie das Foto entdeckte, das Amandines Mutter hinuntergewürgt hatte, bevor sie sich umbrachte, überwältigte sie eine Benommenheit, die mit Entsetzen gepaart war.
Ein Mann, der auf dem Rücksitz eines Polizeiautos saß, starrte ins Objektiv. Feine Regentröpfchen auf der Scheibe erweckten den Anschein, er vergieße Tränen.
38
Paris,
Mordkommission
»Bald nach dem Erscheinen dieses Artikels habe ich aufgehört, für dieses Käseblatt zu schreiben.« Der Reporter überflog die Titelseite des Privé und hielt sie Blandine kopfschüttelnd hin.
»Diese Geschichte hat mir auch regelrecht den Journalismus verleidet«, fügte er nachdenklich hinzu.
Er zündete sich eine Zigarette an und stützte sich auf die Brüstung des Balkons, der den Zoo von Vincennes überragte. Sträucher wogten sanft um künstliche Felsen, die wie Masten aufgepflanzt waren, und Makaken mit roten Hinterteilen schwangen sich von Ast zu Ast.
»Es ist erstaunlich, dass Sie mich wegen dieser Sache aufsuchen, denn ich habe vor etwa drei Monaten einen Brief vom Vergewaltiger der Kleinen erhalten. Er wollte unbedingt, dass ich ihn interviewe. Ich habe abgelehnt. All das liegt hinter mir.«
»Ich verstehe«, sagte Blandine.
Sie hatte nicht lange gebraucht, um herauszufinden, wo er wohnte. Er durfte nicht älter als fünfzig sein, aber er sah zehn Jahre älter aus. Sie ließ den Blick über das Bücherregal gleiten und blieb an dem gerahmten Porträt eines kleinen Mädchens hängen.
»Um auf diesen Artikel zurückzukommen – erinnern Sie sich an das, was passiert ist? Zum Beispiel an bestimmte Details, die Sie weggelassen haben?«
»Das waren langwierige Recherchen. Sie haben im Dezember 2000 begonnen. Mit Videos von
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