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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Andererseits Bedrückung. Und in der Mitte Ratlosigkeit.
    Sie warf das Stäbchen in das Klosettbecken und beobachtete, wie sich der blaue Strich auflöste und in der Mitte des Beckens trieb. Eine Momentaufnahme der Richtungslosigkeit. Sie zündete sich eine Zigarette an und war nicht imstande, die Wasserspülung zu betätigen, da sie nicht sehen wollte, wie der Gegenstand ihrer Angst von den Wasserwirbeln verschluckt würde.
    Sie verließ das Café, ratlos, ohne sich um den Vorstoß der Bereitschaftspolizei, die die Demonstranten Richtung Oper abdrängte, zu kümmern.
    Wieso jetzt?
    Wieso ausgerechnet während dieser Ermittlungen?
    Sie wusste, dass es unsinnige Fragen waren, doch schon der Gedanke an einen Zufall war ihr unerträglich. Ihr Handy läutete und rettete sie vor dem Strom lästiger Gedanken, in dem sie sich verlor. Die Nummer der Kripozentrale, ein weiteres Mal. Nach kurzem Zögern ging sie dran, entschlossen, dem Bär die Stirn zu bieten; auf die Gefahr hin, sich an jemandem abzureagieren, vorausgesetzt, dass er es war.
    »Blandine? Ich habe versucht, Sie zu erreichen, aber ...«
    »Ich konnte nicht drangehen«, fiel sie ihm ins Wort. »Was kann ich für Sie tun, Herr Kommissar?«
    Die Stimme, mit der Jean-Francois Rilk sprach, hatte gar nichts von jenem wütenden Tonfall, mit dem sie gerechnet hatte. Wenn sie den Großen Manitu der Mordkommission nicht so gut gekannt hätte, hätte sie geschworen, Angst und eine tiefe Traurigkeit bei ihm zu spüren.
    »Es geht um Ihren Kollegen ... Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Paul im Krankenhaus ist.«
    »Ich verstehe nicht ... Was hat er?«
    »Blandine, er hatte einen Unfall ... Paul liegt im Hôtel-Dieu, auf der Intensivstation. Tut mir leid ...«
    Sie legte auf, ohne dies überhaupt zu bemerken, und torkelte mitten auf der Fahrbahn. Sie spürte, wie eine unbekannte Zerbrechlichkeit ihr die letzte Kraft raubte, die sie hier auf den Stufen der Oper noch aufrecht hielt. Ein Zittern durchlief sie von der Kopfhaut bis zu den Zehenspitzen und erfüllte sie mit einer Gewissheit: Sie war nicht für Paul da gewesen, und er würde sterben.
    Seit sie bei der Mordkommission arbeitete, hatte sie Aussagen der Angehörigen von Opfern aufgenommen und ihren Kummer unmittelbar miterlebt; etliche von ihnen hatten ihr anvertraut, dass sie die Tragödie vorausgeahnt hatten, mit der Begründung, die Liebe zwischen zwei Menschen ermögliche es der Intuition, sich von den elementaren Gesetzen der Vernunft zu befreien. Blandine hatte nichts auf diese Worte gegeben, da sie überzeugt davon war, dass die Trauer die Wahrnehmung des Ereignisses verändere. Doch in ihrem Inneren, in den Paradoxien ihrer Seele, verübelte sie es sich, dass sie in dem Moment, wo der Mann, den sie liebte, ins Krankenhaus eingeliefert wurde, nichts Ähnliches verspürt hatte – und sei es nur ein kurzes Gefühl der Sorge. Wenn sie das, was geschehen war, vorausgeahnt hätte, dann wäre der Schmerz, den sie jetzt spürte, gelindert worden.
    Die Gebäude verschwanden in gewaltigen roten Rauchwolken unter einem sattblauen Himmel. Die Windstöße trugen einen ranzigen, stechenden Gestank wie von Angstschweiß heran. Blandine atmete diesen Geruch in vollen Zügen ein. Unvermittelt hatte sie das Gefühl einer starken inneren Übereinstimmung mit dem äußeren Chaos, das ihr als das vollkommene Echo ihrer inneren Unordnung erschien.

40
Cayeux-sur-Mer,
Sondereinheit
    Unter einem Himmel mit sturmzerzausten Wolken bogen Broissard und Carrère in die Ortschaft Cayeux-sur-Mer ein und fuhren durch das Dorf in Richtung der Somme-Bucht. Dem grauen Band des Kieselstrandes folgend, gelangten sie über die wie leergefegte Strandpromenade zum Leuchtturm. Unansehnliche Häuser sprenkelten hie und da die Landschaft, doch bald schon gab es nur noch den runden Turm, der wie eine Bronzestatue das bald grüne, bald schwarze Wasser überragte.
    Sie parkten abseits der Straße, gegenüber dem Jachthafen, und ruhten sich einen Moment lang aus, wie gewiegt von den weiß schimmernden Schiffsrümpfen und dem regelmäßigen Quietschen der Takelage. Sylvain Carrère stieg aus dem Wagen aus, rekelte sich und ging zum Eisengitter eines verlassenen Aquaparks.
    Türkisfarbene Rutschbahnen, die überwuchert waren von der wild wachsenden Vegetation, schlingerten träge im Wind. Eine Ratte huschte durch das welke Laub, das den Boden eines Beckens bedeckte. Broissard betrachtete die Bruchbude von Christian Franju am Fuß des

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