Die elfte Geißel
Rätsels. Ich denke tagtäglich daran. Heute Morgen bin ich noch einmal zur Metrostation Haxo, wo man Alice gefunden hatte, zurückgekehrt. Ein Obdachloser hat mir gesagt, ein Freund von ihm habe sie gefunden. Ich habe den fraglichen Obdachlosen gesucht. Er war unauffindbar. Was ist wirklich in dem Labyrinth geschehen?«
Rezepte, die zwischen den Seiten steckten, flatterten auf den Tisch. Trevilor in sehr hohen Dosen. In dem Stapel entdeckte Blandine einen handschriftlichen Einweisungsantrag. Sie sah vom Ordner auf, bekam jedoch nichts von den ersten Zusammenstößen zwischen der Menge und der Bereitschaftspolizei mit. Sie spürte nur die Angst, die sich erneut in sie einnistete, die Angst vor ihr selbst. Der Journalist hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und war ein Jahr lang in der Psychiatrie gewesen. Diese Geschichte hatte ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Ihr wurde schwindlig. Wie war es bei ihr?
Blandine war sich nicht sicher, wie sie weiter vorgehen sollte. Wieso hatte Madame Clerc ein Foto des Mannes aufbewahrt, der Alice vergewaltigt hatte? Hatte sie das Mädchen bei sich aufgenommen? Und vor wem hatte sie solche panische Angst? Welche Verbindung existierte zwischen diesen Personen? Vergeblich versuchte sie die Puzzleteile zusammenzufügen – sie passten einfach nicht.
Sie vertiefte sich in die Lektüre des Porträts des Vergewaltigers. Der Journalist hatte eine – zweifellos gestohlene – Kopie seines Strafregisterauszugs beigelegt.
Étienne Caillois. Der Typ war kurze Zeit vor der Entführung in die Nähe des Hauses der Eltern von Alice Deloges gezogen. Das war ein Punkt, der im Prozess nicht zu seinen Gunsten gesprochen hatte. Man war von zweierlei ausgegangen: Er kannte das Mädchen vom Sehen und hatte den Umstand, dass er in der Nachbarschaft wohnte, ausgenutzt, um es zu entführen. Sein umfangreiches Strafregister war dann noch das Tüpfelchen auf dem i. Allerdings waren seine Vorstrafen seltsamerweise auf den ersten Blick nicht diejenigen eines typischen Pädophilen.
Mit seinem Komplizen wird er 1981 wegen Bildung einer kriminellen Bande und bewaffneten Raubüberfalls festgenommen. Er bekommt zwölf Jahre ohne Bewährung. Nach seiner Entlassung fängt er wieder damit an und wird erwischt. Aus Mangel an Beweisen wird er auf freien Fuß gesetzt. Im Jahr 2000 filmt er die Vergewaltigungen von Alice und stellt sie ins Internet.
Blandine runzelte die Stirn, als sie den Namen des Kommissars las, der 1981 die Verhaftung durchgeführt hatte: Jean-François Rilk. Sie überflog die Liste der bekannten Kontaktpersonen von Caillois. Schwarzhändler, Hehler und haltlose Mädchen, in die sich das Duo vernarrt hatte: Julie Petiot, Kevin Doucet, Vladimir Slatinski, Gaspard Fogeti, Eva Keller ... Niemand, der mit ihrem Fall in Verbindung gebracht werden konnte. Der Reporter des Privé hatte unten auf der Seite vermerkt, dass Étienne Caillois trotz wiederholter Anfragen konsequent ein Gespräch abgelehnt hatte.
Bis vor drei Monaten, als er selbst versucht hatte, Kontakt zu dem Journalisten aufzunehmen.
Sie verzog das Gesicht, als sie ihren Tee trank. Ihre Bauchschmerzen wurde sie einfach nicht los. Ihre Regel hatte noch immer nicht eingesetzt. Ihre Brüste waren geschwollen und taten weh. Etwas allzu deutliche Symptome für ihren Geschmack.
Sie suchte die Toilette des Cafés auf und sperrte sich in eine Kabine ein. Den Schwangerschaftstest, den sie am selben Morgen gekauft hatte, zwischen die Schenkel geklemmt, versuchte sie, sich zu beruhigen. Sie nahm nach wie vor die Pille, sodass sie eigentlich nicht schwanger sein konnte.
Ihr Körper entzog sich ihrer Kontrolle. Ihre Blase war wie blockiert, hart, verspannt und reagierte sensibel auf die böse Vorahnung. Hitzewallungen. Blandine massierte ihre Schamgegend mit den Fingerspitzen, um ihre Muskeln zu entspannen. Schließlich tröpfelte der Harn und färbte den Stab mit dem absorbierenden Material.
Drei Minuten warten.
Auf der Klosettschüssel sitzend, entspannte sich Blandine, so gut sie konnte. Aber es half nichts. Die Angst raubte ihr den Atem. Sie ließ ihren Blick über die obszönen Graffiti, die Telefonnummern und die abgeblätterte grüne Farbe gleiten.
Sie betrachtete den Test.
Blauer Strich. Positiv. Spuren des Hormons Choriongonadotropin.
In kürzester Zeit fühlte sie sich in dieser engen Kabine, diesem stickigen Loch, hin und her gerissen zwischen gegensätzlichen Gefühlen. Reine und irrationale Freude einerseits.
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