Die elfte Geißel
einem Mädchen, das zum Oralverkehr gezwungen wurde.«
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Ich hatte meine Quellen.«
Er drückte seine Zigarette aus und ging zurück ins Büro, wobei er sorgfältig darauf achtete, das Fenster nicht zuzuschlagen.
»Das sollte Sie nicht wundern. Le Privé verdient sein Geld mit ziemlich schmutzigen Geschichten, und da sitzen Polizisten doch gewissermaßen an der Quelle. Kurzum, im Jahr 2000 stieß ich auf einen Ermittlungsbericht, der im Sittendezernat landete. Ein Mädchen mit einem Engelsgesicht, das zu den schlimmsten Schweinereien gezwungen wurde. Es gab genug Stoff für einen super Artikel, und außerdem war es eine Exklusivgeschichte. Dieses Foto da zeigt den Vergewaltiger am Tag der Prozesseröffnung.«
»Waren Sie dort?«
»Beim Prozess? Nein, der fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Mir lagen die Verhandlungsprotokolle vor, aber mein Chefredakteur war der Meinung, ich solle es dabei bewenden lassen.«
»Aus welchen Gründen?«
»Sagen wir, er fürchtete, diese ganze Geschichte wäre mir etwas zu Kopfe gestiegen. Ich ...«
Der Journalist zögerte und lächelte matt.
»Ich fand, dass da irgendetwas nicht stimmte, Details, die nicht zusammenpassten, eine sehr lückenhafte Beweisführung. Die Art, wie die Ermittlungen abgeschlossen wurden, wie die Kleine gerettet wurde, diese ganze Inszenierung ...«
Er trat an das Bücherregal heran und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Beschriftung auf dem Deckel der oberen Aktenordner zu entziffern. Ohne sich umzudrehen, murmelte er:
»Ich musste mich danach eine Zeit lang erholen.«
Er zog einen Ordner heraus, blätterte ihn durch, atmete tief ein und hielt ihn ihr fast widerwillig hin:
»Da ist alles drin. Meine Arbeitsnotizen, die Fotokopien von Berichten. Sie können ihn behalten.«
»Eine letzte Frage: Hieß das kleine Mädchen mit Vorname Amandine?«
»Nein, es hieß Alice. Alice Deloges.«
39
Paris,
Place de la Bastille,
Mordkommission
Blandine setzte sich, den Ordner unter dem Arm, in ein Café nahe der Place de la Bastille. Die Notizen zeichneten den Leidensweg von Alice von Anfang an nach. Sie zwang sich dazu, nicht nach einer direkten Verbindung zwischen Amandines Mutter und diesem Kind zu suchen und sich rein an die Tatsachen zu halten.
Verschwunden ist Alice am 28. November 2000 vor der Wohnung ihrer Eltern. Nach einer zwölftägigen Suchaktion steht die Polizei mit leeren Händen da. Am 16. Dezember entdecken deutsche Internetfahnder, dass in pädophilen Foren ein Video und Fotos in Umlauf sind. Sie verständigen die Pariser Behörden, weil der Vergewaltiger Französisch spricht. Maxime Kolbe wird mit den Ermittlungen betraut, ihm steht Léopold Apolline als Stellvertreter zur Seite.
Eine Explosion und Schreie rissen Blandine aus ihren Gedanken. Auf dem Platz zündeten Demonstranten schwarze und blaue Rauchbomben – die Szenerie glich einem Gewitterhimmel, der sich dicht über die Erde herabgesenkt hatte. Ihr Handy vibrierte und zeigte die Nummer der Mordkommission an. Sie ließ es läuten und frohlockte innerlich über die Wut, in die ihr Schweigen ihren Chef versetzen musste, und machte sich über den Ordner her.
Der Journalist hatte Zugang zu den Beweisstücken gehabt und diese beschrieben. Die Redaktion hatte den Artikel nie veröffentlicht. Die Begründung für die Zensur: »Du gehst zu weit, selbst für Le Privé . Unsere redaktionelle Linie ist klar. Versuch dich ein wenig neu zu justieren, oder ich sehe mich gezwungen, die Berichterstattung über den Fall jemand anderem zu übertragen.«
Draußen drängten sich immer mehr Menschen um die Säule. Bereitschaftspolizisten riegelten das Gebiet ab, da sie mit Massenbewegungen rechneten. Blandine überflog den Ordner – sie blätterte die Seiten mit klammen Händen um. Je mehr sich der Reporter der Auflösung näherte, umso dichter wurden seine Aufzeichnungen, die jedoch zugleich immer unklarer wurden. Die Rettung des Mädchens und die Verhaftung des Vergewaltigers schienen für ihn ein Problem darzustellen. Er hatte am Rand notiert:
»14.04.2001. Ich verstehe es einfach nicht. Von heute auf morgen entdeckt Maxime Kolbe unmittelbar hintereinander Alice und ihren Peiniger, Étienne Caillois, der gerade fliehen wollte. Noch erstaunlicher ist, dass Lieutenant Apolline nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangt. Ich habe das Gefühl, dass ich irgendetwas übersehe.
04.05.2001. Ich besitze nicht den Schlüssel zur Lösung des
Weitere Kostenlose Bücher