Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
Vom Netzwerk:
hakte er nach.
    »Ich weiß es nicht. Sie ist sehr vage geblieben«, antwortete die Leiterin erschrocken, als sie die unvermittelte Anspannung des ihr gegenübersitzenden Polizisten bemerkte.
    »Es ist sehr wichtig. Ich muss wissen, worüber sich Amandine und ihre Mutter stritten.«
    »Ich glaube, dass Corinne sie mit ins Ausland nehmen wollte und dass Amandine dagegen war. Sie sagte, sie könne jetzt nicht alles aufgeben.«
    »Was aufgeben?«
    »Ich weiß es nicht. Sie verstummten, sobald ich mich näherte.«
    »Und wann haben Sie dieses kleine Mädchen zum ersten Mal gesehen?«
    »Kurz bevor Corinne kündigte. Sie hatte mich um die Erlaubnis gebeten, es während ihrer Arbeitszeit mit hierher zu bringen. Ich habe ihr die Bitte nicht abschlagen können. Die Heimbewohner sind oft sehr allein, und dieses Kind hat sie ein wenig aufgeheitert.«
    Die Frau starrte ihn entsetzt an und spielte nervös an den Bügeln ihrer Brille herum.
    »Mein Gott, es tut mir leid, sehr leid. Wenn ich gewusst hätte, dass man mich eines Tages bitten würde, zu erzählen ...«
    Sie beendete den Satz nicht; ein Schluchzer, der heftiger war als die vorangehenden, durchzuckte sie wie eine Marionette, die von einer jäh ruckenden Hand an den Fäden gezogen wird.
    »Entschuldigen Sie mich, ich ... ich bin ein wenig erschöpft, verstehen Sie ...«
    Der Beamte stand auf und ging schweren Herzens und düsterer Stimmung Richtung Tür. Er hatte Dutzende solcher Gespräche geführt, mit Zeugen von Morden, Angehörigen von Opfern, und dennoch gelang es ihm nie, sich des Gefühls zu erwehren, ein Eindringling zu sein, nichts als ein Unheilverkünder. Er fühlte sich wie ein Arzt, der den Angehörigen eines Patienten eröffnet, dass dieser auf dem Operationstisch gestorben ist, dass sie ihre Hoffnungen begraben müssen und dass das Leben nie mehr so sein wird wie früher.
    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie haben mir sehr geholfen«, sagte Paul und verließ das Büro.
    Als er aus dem Gebäude kam, ertönte ganz in der Nähe ein dumpfes Geschrei, ähnlich dem Radau einer Schar von Bulldozern, die sich über die Fundamente der Stadt hermachen, und ließ die Fensterscheiben in der Straße erzittern. Paul und die anderen Passanten erstarrten auf den Gehsteigen, denn sie spürten unter ihren Füßen Erschütterungen, die so stark waren wie Erdstöße. Polizeisirenen begleiteten den Tumult, und in diesem Moment erblickte er, am Ende der Rue Rousseau, brennende Autos, geplünderte Geschäfte und eine wütende Meute, eine Menschenmenge außer Rand und Band, die entschlossen war, Paris in den Schauplatz des Jüngsten Gerichts zu verwandeln.
    »Was ist denn hier los?«
    Der Schweiß von Tausenden von Menschen, die sich zusammendrängten, förmlich miteinander verschmolzen, verpestete die Umgebung der Markthallen, und der Gestank tauchte die Stadt, vom Boulevard Sébastopol bis zur Kirche Place Saint-Eustache, in eine ekelerregende Marinade. In billigem Wein aufgelöstes minderwertiges Speed ging von Hand zu Hand, von Mund zu Mund, setzte Dopamin frei und erwärmte nach und nach die Herzen und die Köpfe. Gewerkschafter, Studenten, Krawallmacher – alle hielten zusammen und marschierten durch die Straßen, sich die Lunge aus dem Hals schreiend, vereint in der Erregung, der Wut und dem Wunsch, dem Chaos ein für alle Mal zum Durchbruch zu verhelfen.
    Gegenüber der Phalanx der Demonstranten umklammerten Bereitschaftspolizisten ihre Schilde und ihre Schlagstöcke mit eisernem Griff. Die beiden Blöcke, die nur etwa dreißig Meter voneinander entfernt waren, schienen unter dem gleichen Strom zu stehen; 10000 Volt, die unter der Haut flossen und den fieberhaften Drang entfachten, zuzuschlagen und Knochen zu zertrümmern.
    Sieg, Niederlage, in diesem Moment hatten diese Wörter keinen Sinn mehr. Es zählte allein die unmittelbar bevorstehende Auseinandersetzung, das Planen der eigenen Schläge, das Vorwegnehmen fremder Schläge, als würde die brutale Euphorie, die intensive Verbindung, die durch den Kampf hervorgerufen wurden, den ganzen Rest übertreffen und den eigentlichen Anlass des Blutvergießens zerstören. Die Phalanx der Bereitschaftspolizei verkörperte weder Gesetz noch Ordnung; sie war die Linie, gegen die man anrückte, die ganze Bitterkeit über ein elendes Leben, den Groll über eine Existenz, die durch eine Vielzahl gescheiterter Hoffnungen zugrunde gerichtet wurde, konnte man an ihr auslassen. Zweitausend synchronisierte Herzen,

Weitere Kostenlose Bücher