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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Leuchtturms und fragte sich, ob auch er eines Tages beschließen würde, sich von der Welt zurückzuziehen.
    Franju war ein brillanter Polizist gewesen, jemand, der hartnäckig am Ball blieb und seine Überstunden nicht zählte. Seine Kollegen im Sittendezernat hatten ihm den Spitznamen »Dackel« gegeben, weil er einen unglaublichen scharfen Spürsinn hatte und seine Beute erst losließ, wenn sie hinter Gittern war.
    Franju, der aus Ascain stammte, einem Ort im Baskenland, wusste schon in frühen Jahren, dass er den elterlichen Betrieb nicht übernehmen wollte, und ging stattdessen mit achtzehn Jahren zur Polizei. Er arbeitete zunächst beim Zoll in Bayonne, wo er Schmuggelware und Rauschgift abfing, vor allem Heroin und Marihuana, die auf dem Seeweg nach Frankreich eingeschleust wurden. Im September 1980 wurde Christian Franju auf Anordnung des Polizeipräfekten zum Sittendezernat der Pariser Polizei versetzt. Dort lernte er Maxime Kolbe kennen. Am Tag seines dreißigjährigen Dienstjubiläums wurde er zum Oberkommissar und außerdem zum Generalsekretär der Polizeigewerkschaft ernannt. Eine Karriere und eine Auszeichnung, die für einen Mann, der nicht einmal das Abitur hatte, völlig unverhofft kamen. Noch am Tag seiner Beförderung schmiss er alles hin. Niemand hat je erfahren, wieso. Er ließ sich, fern von Paris, am Meer nieder. Von einer dürftigen Pension lebend, gab man ihm den Spitznamen »Eremit«, dann geriet er nach und nach in Vergessenheit.
    »Er hat früher einmal mit Maxime zusammengearbeitet. So habe ich ihn kennengelernt. Wenn es jemanden gibt, der uns helfen kann, diese Zahlen zu entziffern, dann er.«
    Und er war auch der Einzige, der seine Flucht verstehen konnte, dachte Broissard, ohne den Horizont – einen leuchtenden Faden, der das Meer abschnitt – aus den Augen zu lassen.
    Sie klopften an die Tür des Häuschens. Nach einigen Momenten der Stille hörte man schwere Schritte, die über den Fliesenboden hinter dem Türstock schlurften. Eine von einer weißen Mähne umkränzte Gestalt zeichnete sich in der Tür ab. Nach einem Moment der Unschlüssigkeit entfuhr es dem Eremiten:
    »Alain? Aber ... aber was machst du denn hier?«
    Sie fielen sich in die Arme, als hätten sie sich am Vortag zum letzten Mal gesehen. Alain zuckte zusammen, als er unter der Achsel von Franju den Kolben einer Pistole spürte. Er löste sich aus der Umarmung und deutete auf die Ausbauchung.
    »Ich habe immer geglaubt, das Leben in der Provinz wäre gleichbedeutend mit beschaulicher Ruhe.«
    »Ich bin ein alter Herr ... in meinem Alter kann man nicht vorsichtig genug sein«, sagte er mit einem hämischen Lächeln.
    Broissard wandte sich dem Brigadier zu.
    »Ich stelle dir Sylvain Carrère vor.«
    Christian drückte ihm herzlich die Hand und bat sie, einzutreten, wobei er sich gleich noch für die Unordnung entschuldigte. Man sah dem Häuschen an, dass es von einem Junggesellen mit sehr persönlichen Vorstellungen von Reinlichkeit bewohnt wurde. Dafür war das Innere geschmackvoll in Pastelltönen – Hellgrün und Abricot – gehalten, was die Behaglichkeit der Räume verstärkte. Reproduktionen impressionistischer Gemälde zierten die Wände des Wohnzimmers. In einer Ecke standen zwei Jagdgewehre in einem Ständer.
    Sie ließen sich in Clubsessel fallen, und der Gastgeber schenkte ihnen zwölfjährigen Glenmorangie ein. Der Eremit schwenkte die Eiswürfel in seinem Glas und fragte ohne Umschweife:
    »Gibt es Neuigkeiten von Kolbe?«
    »Er wird bald vor Gericht gestellt werden.«
    »Und wie verkraftet er all das?«
    »Ich weiß es nicht. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, ging es ihm nicht besonders gut.«
    »Und du?«
    »Ich habe beschlossen, abzuhauen ... um zu versuchen, wieder zu mir selbst zu finden.«
    Broissard bemerkte, dass Franju angespannt, auf eine vage Weise beunruhigt war. Das merkte man daran, dass er regelmäßig einen Finger in den Whisky eintauchte.
    »Was ist los? Ich merke doch, dass du etwas auf dem Herzen hast.«
    »Selbst hier kommen mir Geschichten, Gerüchte zu Ohren – ehemalige Kameraden, die mich anrufen und mich auf dem Laufenden halten. Und ...«
    »Hast du gehört, dass eine Anzeige gegen mich erstattet wurde?«
    Alain seufzte, als er den zerknirschten Gesichtsausdrucks seines alten Freundes sah.
    »Ich werde nicht zu dem Prozess gehen.«
    »Du bringst dich unnötig in Schwierigkeiten.«
    »Gib dir keine Mühe, mein Entschluss steht fest. Ich gehe nicht das Risiko ein,

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