Die elfte Geißel
geografische Koordinaten in sexagesimaler Notation.«
Der Brigadier lächelte angesichts der einfachen Lösung und entzifferte mit lauter Stimme:
»Breitengrad: 51 Grad, eine Minute und 17 Sekunden nördlicher Breite. Längengrad: 2 Grad, 21 Minuten, 39 Sekunden östlicher Länge ...«
»Du sagst uns jetzt alles, was du darüber weißt, Christian.«
Das Gesicht des Eremiten war von einer wächsernen Blässe. Die Angst hatte ihn jäh altern lassen. Er bohrte seine Finger wie Krallen in Broissards Oberschenkel.
»Du hast nicht die leiseste Ahnung davon, was das ist. Du kannst es dir nicht einmal vorstellen.«
41
Cayeux-sur-Mer,
Sondereinheit
»Als ich zum ersten Mal davon hörte, arbeitete ich bei der Sitte. Das war Anfang der achtziger Jahre. Man hat mir einen Fall von Prostitution bei den Zigeunern aufgebrummt. Maxime war mein Teamkollege.«
Christian Franju kam aus der Küche zurück und schenkte sich aus einem Tetrapak Tomatensaft ein, den er reichlich mit Wodka würzte.
»Eine Bloody Mary ohne Zitrone, ohne Sellerie und ohne Pfeffer?«, fragte er und schwenkte die Flasche in Richtung von Broissard und Carrère.
Sie schüttelten den Kopf.
»Sechs Monate lang sind wir der Spur des Netzwerks gefolgt. Wir haben Sachen entdeckt, die man nicht für möglich hält. Filme, in denen rumänische Mädchen mitspielten, die nicht einmal fünf Jahre alt waren, und wenn ich von Filmen spreche ... wir haben das wahre Gesicht des Grauens gesehen ... Wir haben ihm direkt in die Augen geblickt. Es ist zu einer Obsession geworden. Wir mussten das durchziehen.«
Der Eremit rührte den Wodka mit den Fingern unter das Tomatenmark.
»Aber dann ist die Sache aus dem Ruder gelaufen. Unsere Vorgesetzten haben uns den Fall entzogen. Maxime musste fast ein Jahr lang Sonderurlaub nehmen. Er hat sich in einer Klinik erholt. Ich wurde eine Zeit lang kaltgestellt. Ich habe zwei oder drei unbedeutende Fälle bearbeitet. Am Wochenende habe ich Maxime bei den Bekloppten besucht. Wir haben diesen Scheißfall immer wieder durchgekaut, weil wir die Hintergründe verstehen wollten. Doch es gab nichts zu verstehen ...«, fügte er hinzu, ins Leere blickend. »Als Maxime zurückkam, war er nicht mehr derselbe. Etwas in ihm war zerbrochen. Und dann brachte er am 6. August 1983 ohne ersichtlichen Grund einen gewissen Antonio Diaz um. Ich dachte, Maxime sei durchgedreht. Antonio Diaz war Abschaum, aber ein kleiner Fisch. Im Verlauf der Ermittlungen hatten wir ihn vernommen, aber zu keinem Zeitpunkt war er ein Verdächtiger. Daher habe ich noch weniger verstanden, wieso Maxime ihn kaltgemacht hat. Weshalb ihn, verdammt noch mal? »Was ist da wirklich passiert?«
»Maxime hatte insgeheim die Ermittlungen ganz allein fortgeführt und sich dabei nacheinander sämtliche Erkenntnisse noch einmal vorgeknöpft und die Ermittlungsansätze überprüft. Und auf diese Weise kam er auf Antonio Diaz.«
Er legte eine Pause ein, ehe er fortfuhr:
»Ich erspare euch die Einzelheiten, doch Maxime hat herausgefunden, dass der kleine Fisch in Wirklichkeit die graue Eminenz, der Drahtzieher all dieser Schweinereien und vieler anderer Verbrechen war: Drogenhandel, illegale Pornografie, Zwangsprostitution ... und so weiter und so fort.«
»Aber wieso hat er ihn dann umgebracht?«
Broissard verkrampfte sich. Ihm pochte das Blut in den Schläfen.
»Weil Maxime verrückt ist! Seine Nachforschungen hatten keine gerichtsverwertbaren Beweise erbracht. Er hat lieber Selbstjustiz geübt, als das Risiko einzugehen, dass Antonio Diaz freigesprochen würde. Aber das Interessanteste ist das, was Diaz ihm vor seinem Tod anvertraute.«
Der Eremit tat einen kräftigen Schluck aus seiner Bloody Mary für Arme.
»Er hat ihm erzählt, dass sein Drogengeschäft in Europa von dem Kartell von Medellin finanziert wird und dass Pablo Escobar Gaviria persönlich ihn zum ›Erzengel‹ seiner Organisation ernannt hätte. ›Erzengel‹ ist ein Ehrentitel, den Escobar erfunden hat und der in etwa dem Paten oder Capo der sizilianischen Mafia entspricht. Laut Aussage von Antonio Diaz soll es pro Kontinent einen Erzengel geben, der für sämtliche illegalen Geschäfte auf dem Territorium, das ihm zugeteilt wurde, verantwortlich ist.«
»Du willst sagen, dass Montoya ...«
»Ja, Jésus Miguel Montoya ist der Nachfolger von Antonio Diaz in Europa.«
»Aber was haben diese Koordinaten damit zu tun?«, fragte Carrère, das Blatt schwenkend.
»Um ihn zu verhöhnen, hat Diaz Maxime
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