Die elfte Geißel
anvertraut, es gebe eine Drehscheibe, wo die Schmuggelware umgeschlagen wird. Er hat von einem Ort auf hoher See, außerhalb der Hoheitsgewässer, gesprochen. Ein wenig wie das Fürstentum Sealand.«
»Und das bedeutet?«
»Es ist unmöglich, dort Durchsuchungen vorzunehmen oder sich dem Ort auf legalem Wege zu nähern.«
»Und was ist mit Interpol?«
»I wo! Sie haben uns ins Gesicht gelacht, als wir ihnen von dieser rechtsfreien Zone vor unserer Küste erzählten. Da haben Maxime und ich Beweise für die Behauptung von Antonio Diaz gesucht. Mehrere Jahre lang haben wir Spuren verglichen und unsere Spitzel darauf angesetzt. Schließlich haben wir drei Orte identifiziert, die in Frage kommen könnten: Der erste befindet sich mitten in der Barentssee, der zweite vor der schwedischen Küste, und der dritte ist dieser da.«
Christian Franju stand auf und ging zur Bücherwand, sprach allerdings weiter.
»Während der Ermittlungen über die Vergewaltigung von Alice Deloges im Jahr 2001 hat Maxime Gaspard Fogeti den Auftrag erteilt, herauszufinden, welcher dieser Orte der richtige ist. Fogeti hat immer behauptet, dies sei ihm nicht gelungen. Vor allem aus diesem Grund hat Maxime ihn bei seinem Prozess verpfiffen. Er wollte sehen, ob Gaspard weich wird und auspackt, um seine Haut zu retten. Genau so ist es dann gekommen. Gaspard Fogeti hat ausgepackt, aber er hat versucht, zu feilschen: die geografischen Koordinaten gegen Zeugenschutz. Der Richter hat ihm nicht geglaubt und ihm eine freundliche Abfuhr erteilt.«
Er breitete eine Karte Europas auf dem Couchtisch aus und zeichnete dort, wo sich 51 Grad nördlicher Breite und 2 Grad östlicher Länge schneiden, einen Punkt ein. Der Eremit stieß allein mit der Luft an.
»Ich suche diesen Eingang zur Hölle schon seit Ewigkeiten. Ich bedauere, dass Maxime nicht da ist, um das zu sehen.«
Broissard und Carrère beugten sich über die Karte. Sie wippten in ihren Sesseln aufgeregt mit den Füßen, als würde zwischen ihnen ein elektrischer Strom fließen. Der Punkt lag mitten im Meer, gleich weit entfernt von Dunkerque und von Ramsgate in England.
Alain ließ seinen Blick von der Tinte des Füllers zum Fenster schweifen, und vom Fensterrahmen zu der grauen Pfütze, die ein Segelschiff durchfuhr.
Irgendwo Richtung Norden zeichnete sich die nächste Etappe seiner Reise ab. Seine Augen wurden feucht. Er führte dies auf die Erschöpfung zurück. Er nahm sich vor, ein wenig zu schlafen, bevor sie nach Calais fahren würden, um sich ein Boot zu mieten. Aber all seine Sinne waren hellwach. Er stand total unter Strom.
Schlag 21 Uhr riefen sie beim Wetterdienst an – wechselhafte Witterung mit vereinzelten Regenschauern – und reservierten ein Boot.
In der Haustür umarmten Alain Broissard und Christian Franju einander. Der alte Polizist deutete mit dem Kopf auf Sylvain Carrère, der die von Sprühwasser bedeckte Windschutzscheibe abwischte.
»Vertraust du ihm?«
»Ich glaube schon. Allerdings kann ich dir nicht genau sagen, wieso«, antwortete Alain lächelnd. »Christian, bitte nimm es mir nicht übel, doch ich möchte dich noch um einen letzten Gefallen bitten.«
»Nur raus damit.«
»Sag bitte niemand, dass ich hier gewesen bin. Oder lass uns wenigstens die Zeit ...«
»Ich werde schweigen wie ein Grab.«
Christian Franju sah ihnen nach, wie sie davonfuhren. Er war total aufgewühlt. Er versucht sich zu beruhigen, aber weder der Whisky noch der Wodka verringerten seine Angst. Er fühlte sich schuldig, weil er Broissard nicht davon abgebracht hatte, sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Schuldig und beunruhigt.
»Alles wird gut gehen ... alles wird gut gehen«, sagte er sich immer wieder, ohne dass es ihm gelungen wäre, sich selbst davon zu überzeugen.
42
Paris,
Hôtel-Dieu,
Mordkommission
»Tut mir leid, aber Sie können nicht zu ihm.«
Der Chefarzt der Intensivstation legte die Hand auf Blandines Schulter. Ob es ein echtes Zeichen der Ermunterung oder eine konventionelle Geste war – die Lieutenante schenkte dem weiter keine Beachtung. Das Augenmerk auf die weiße Tür gerichtet, hinter der Paul im Sterben lag, blieb sie stumm und gefügig; sie hatte nicht einmal die Kraft, gegen das Diktat des Arztes zu protestieren.
»Und Sie, kommen Sie mit dem Schock klar?«
»Ich weiß es nicht«, stammelte sie, den Blick noch immer auf die makellose Tür gerichtet, die sie von einem Leben trennte, das nie mehr das gleiche sein würde.
»Sie müssen jetzt
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