Die elfte Geißel
die Arme aus, um einen Halt zu suchen, aber ihr Griff ging ins Leere. Die Dunkelheit verzerrte ihre Wahrnehmung, und sie hatte das Gefühl, wie in Zeitlupe zu stürzen. Mit der Schläfe stieß sie gegen die Tunnelwand, sodass sie Sternchen sah. Sie stürzte mit ihrem ganzen Gewicht aufs Gleis. Der Schmerz fuhr ihr in die Rippen, und ihr Schrei hallte in der Dunkelheit wider, ehe er von den dissonanten Echos der Großstadt, die von der Decke herabtropften, übertönt wurde.
Ihr Kopf verschmolz mit dem Metall. Lange Minuten verstrichen, bevor sie sich wieder bewegen konnte. Nach einem Halt tastend, um sich daran hochzuziehen, schürfte sie sich auf dem Kies und dem Eisen die Hände und die Knie auf. Sie hatte noch immer das Gefühl, zu fallen, was sie dazu zwang, sitzen zu bleiben. Mit weit aufgerissenen Augen in die Finsternis starrend, suchte sie vergeblich nach einem Orientierungspunkt. Sie nahm ihre Waffe in die Hand und stocherte damit herum wie mit einem Blindenstock.
»Nein, nein, nein ...«
Aus ihrer Jeanstasche nestelte sie die Bruchstücke ihres Handys. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und erstickte die aufsteigenden Schluchzer. Völlige Dunkelheit.
Sie wusste nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte, und machte daher aufs Geratewohl einige Schritte vorwärts, wobei sie die gleichförmigen Schatten eingehend musterte. Ein heiseres, ersticktes Rasseln entrang sich ihrer Brust, Blut und Tränen machten ihre Wangen nass. Jähe Anfälle panischer Angst in sich unterdrückend, zerkratzte sie die Wände, um sich auf den Beinen zu halten.
Wenn sie nicht abließ, lief sie Gefahr, nicht mehr lebend aus diesem Labyrinth herauszukommen. Aber irgendetwas, tief in ihrem Innern, zog sie weiter und verbot ihr, aufzugeben. Sie musste es wissen. Sie ging weiter, unsicher, ob sie die Kraft hätte, umzukehren, angetrieben allein von dem Verlangen, in Erfahrung zu bringen, wo Alice Deloges aufgefunden worden war. Die panische Angst, die das Mädchen empfunden haben musste, regte sich in ihr und verschmolz mit ihrer eigenen.
Sie machte noch einige Schritte und stolperte über einen tückischen Buckel, als sie eiskalt das Gefühl durchfuhr, nicht allein zu sein. Kaum wahrnehmbare Bewegungen. Etwas regte sich langsam im Dunkeln.
»Ist da jemand?«
Ihre Stimme hallte schwach wider. Ihre Hand ertastete eine Vertiefung in der Mauer. Sie kauerte sich dort hinein und spähte in die Nacht. Ein leichter Luftzug, gefolgt von einem asthmatischen Keuchen rechts von ihr, bestätigten ihr, dass sie nicht halluzinierte. Nur wenige Meter von ihr entfernt bewegte sich etwas und atmete. Ihr Herz pochte. Die Lieutenante zog ihre Waffe und umfasste sie mit beiden Händen, um das Zittern zu dämpfen.
»Ich bin bewaffnet!«
Mitten im Satz versagte ihr die Stimme. Sie sicherte ihre linke Flanke, aber der Lauf ihrer Pistole war unsichtbar. Sie konzentrierte sich und achtete auf ihre Wahrnehmungen. Die Geräusche der Stadt schienen lauter zu werden. Dumpfe, matte Geräusche. Schrilles Knirschen.
Sie spürte, dass diese unsichtbare Kreatur näher gekommen war. Die Bewegungen in der Dunkelheit wurden ausgreifender. Sie musste nah sein, höchstens zehn Meter entfernt und zu groß für ein Tier. Ein Finger legte sich um den Abzug. Sie sah eine gespenstische Erscheinung. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor die Silhouette wieder von der Finsternis verschluckt wurde.
»Bleiben Sie, wo Sie ...«
Die Angst fesselte ihre Zunge. In dem Maße, wie sich in ihr die irrationale Überzeugung durchsetzte, dass dieses »Ding« sie verfolgte und sie sehen konnte.
Aber wer würde ihr schon nachstellen?
Die einzige Antwort, die ihr einfiel, lautete: ER. Amandines Mörder. Dieser gesichtslose ER, hinter dem sie her war, und der sie seinerseits verfolgte. Eine Ahnung, die stärker war als die anderen, schnürte ihr die Kehle zu.
Sie wäre sein nächstes Opfer.
FLIEHEN .
Das Wort läutete wie ein schrilles Alarmsignal in ihrem Schädel. Unfähig, ihren panischen Schrecken zu zügeln, sprang sie aus ihrem Versteck heraus und begann zu rennen. Der Tunnel schien sich um sie zu schließen, und während sie ihre Schritte beschleunigte, betete sie, dass ihrem Körper nicht die Kräfte schwänden.
Alles ging zu schnell. Vor ihr gähnte ein riesiges schwarzes Loch. Sie stürzte sich hinein, verfolgt von alptraumhaften Gestalten, die sie umschwirrten. Blandine schürfte sich die Haut auf, der Beton zerkratzte ihre Arme und ihre Schenkel. In
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