Die elfte Geißel
Stimme.
»Zoé, ich will, dass Sie sämtliche von unserer Dienststelle erkennungsdienstlich behandelten Straftäter, die vor Kurzem oder auch schon vor längerer Zeit entlassen wurden, genau unter die Lupe nehmen. Wenden Sie sich an die Justizvollzugsbehörde. Kontaktieren Sie das Sittendezernat, und fordern Sie die Liste der Delikte gegen Minderjährige an. Schicken Sie ein Rechtshilfeersuchen an die belgische, die niederländische und die deutsche Polizei – vielleicht wissen die ja was.«
Zoé Hermon schrieb die Worte ihrer Chefin hastig mit.
»Ihr anderen quetscht eure Informanten aus. Ich will die Namen neuer Lieferanten illegaler Pornos, der Websites, auf denen man sie online bestellen kann, die Adressen der Depots. In diesem Film fehlt ein Mädchen. Leitet sein Foto und seine Personenbeschreibung an alle Dienststellen weiter und stellt klar, dass das höchste Priorität hat. Das ist alles.«
Léopold schickte sich an, mit den drei Lieutenants das Zimmer zu verlassen, als die Kommissarin ihn ansprach:
»Sie nicht, Apolline.«
Léo wartete resigniert. Er wusste, was sie sagen würde, was sein Gefühl der Niederlage nur noch verstärkte. Ihm wurde klar, dass seine Chancen, die Kinder zu retten, gegen null tendierten und dass der dünne Faden, der ihn mit ihnen verband, zerschnitten würde.
»Machen Sie bitte die Tür zu.«
Er setzte sich, den Kopf zwischen die Schultern gezogen und in der sicheren Erwartung, dass sich seine Hoffnungen ein weiteres Mal verflüchtigen würden.
»Sie haben gute Arbeit geleistet.«
»Wie bitte?«
Er sah sie ungläubig an. Die Kommissarin fing seinen Blick auf, und ein leises Lächeln dehnte ihre Lippen, doch ihre Augen blieben kalt.
»Ich wollte, dass Sie an der Besprechung der Ermittlungsgruppe teilnehmen, damit Sie sich mit meiner Methode vertraut machen.«
Sie betonte »meiner«.
»Sie haben beeindruckende Fortschritte in diesem Fall erzielt. Wenn es uns gelingt, herauszufinden, wo diese Kriminellen ihren Machenschaften nachgehen, besteht die Chance, dass wir alldem ein Ende setzen können, und dies werden wir Ihnen zu verdanken haben.«
Léo hatte das seltsame Gefühl, dass diese Frau ihn voll und ganz durchschaute, dass sie in ihm las wie in einem offenen Buch und seine innersten Beweggründe kannte.
»Ich verstehe und respektiere Ihre Entscheidung, Ihre Erkenntnisse über das in Clermont-Ferrand verschwundene Mädchen für sich zu behalten, auch wenn ich es schade finde, dass Sie nicht mit mir darüber gesprochen haben.«
»Ich wollte ...«
»Bitte keine Rechtfertigung. Dafür haben wir keine Zeit mehr. Ich biete Ihnen Folgendes an: Sie haben bei den Ermittlungen freie Hand. Sie tun das, was Sie für richtig halten, mit den Mitteln, die Ihnen als die besten erscheinen. Meine Dienststelle ist der Kern, und Sie sind das freie Elektron. Sie können jetzt gehen.«
Léo stand taumelnd auf, hin- und hergerissen zwischen Unverständnis und Freude. Die Worte der Kommissarin hatten der sechzehnminütigen Barbarei etwas von ihrer brutalen Wucht genommen. Er grüßte sie, wobei er unbeholfen versuchte, seine Rührung zu verbergen, aber als er schon in der Tür stand, drehte er sich noch einmal um und fragte:
»Warum?«
»Warum was, Lieutenant?«, antwortete sie, bereits über die auf ihrem Schreibtisch aufgeschichteten Dokumente gebeugt.
»Warum tun Sie das für mich?«
»Weil Sie der letzte Mitarbeiter von Maxime Kolbe sind. Alain Broissard wurde offiziell pflichtwidriges Fernbleiben vom Dienst attestiert, und wenn er bis zwölf Uhr nicht beim Dezernat für interne Ermittlungen auftaucht, wird er als flüchtiger Tatverdächtiger zur Fahndung ausgeschrieben. Aber auch wenn ich die Methoden von Kommissar Kolbe missbillige, kann ich ihre Wirksamkeit doch nicht bestreiten. Die Sondereinheit wurde aufgelöst. Die Zeit der drei ungebundenen und gesetzlosen Rächer im Namen der Gerechtigkeit ist vorüber, und Sie sind der Einzige, der noch übrig ist. Am Ende dieser Ermittlungen werden Sie sich entscheiden müssen: Entweder Sie unterstellen sich meiner Weisungsbefugnis und ich werde versuchen, Ihnen Ihre Dienstvergehen nachzusehen, oder ich fordere Ihre Entlassung.«
44
Paris,
Quai des Orfèvres 36,
Sondereinheit
Léo hatte kaum sein Büro betreten, als auch schon das Telefon läutete.
»Monsieur Apolline?«
»Ja.«
»Ich bin die Mutter von Julia Verno.«
Kalte Dusche. Der Name war für ihn wie eine Ohrfeige, die ihn aus einem Alptraum riss, um ihn in einen
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