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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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lichten Momenten wurde ihr klar, dass sie den Verstand verloren hatte, aber der Schrecken trieb sie in eine wilde, kopflose Flucht.
    Die Milchsäure begann ihre Muskeln anzugreifen und ihre Bewegungen zu verlangsamen. Sie kämpfte jetzt mit der Kraft der Verzweiflung. Vergeblich. Sie taumelte, blinzelte mit den Augen, um die Lichtpunkte zu verjagen, die in ihrem Kopf aufblitzten, und wurde sich des Ortes bewusst, an dem sie sich befand.
    HAXO.
    Weiße Buchstaben auf rotem Untergrund.
    Die gespenstische Szenerie der Metrostation war in ein fahles Licht getaucht. Sie war etwa dreißig Meter lang, hatte eine niedrige Decke und schien auf wundersame Weise das Verstreichen der Zeit unbeschädigt überstanden zu haben. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden und die Bänke und vermittelte ihr die Illusion, ins Herzen eines unterirdischen Pompeji vorzudringen, einen abgekapselten Ort, wo jeder noch so kleine Gegenstand unter der Ascheschicht in alle Ewigkeit konserviert bliebe.
    Blandine versuchte die Mauer zu erklimmen, doch ihre Füße glitten auf dem Kies aus. Sie spürte die Präsenz in ihrem Rücken. Sich an der Kante abstützend, gelang es ihr, sich auf den Bahnsteig hochzuziehen. Sie wollte zum Ausgang fliehen. In der Dunkelheit kratzte sie mit den Nägeln an einer zugemauerten Tür, an der ein riesiges schwarzes Graffito in Form eines Auges angebracht war. In die Enge getrieben, drehte sie sich um. Vor Schreck stockte ihr das Blut in den Adern. Sie sprach ein Gebet, ein Gebet, das die Dämonen verjagen sollte, ein Gebet, das ihr das Leben retten sollte. Sie atmete die Luft in tiefen Zügen ein. Vergeblich. Mit ihren Kräften am Ende, japste sie und ließ sich auf den Bahnsteig fallen.
    Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, gewahrte sie noch einen Mann in Lumpen, mit einem zerknitterten Gesicht von durchscheinender Blässe, der sich über sie beugte. Wirkliche Hände tasteten ihren Körper ab, ohne dass sie sich rühren konnte, da die Angst sie lähmte.
    Sie versuchte, genügend Kraft in sich zu mobilisieren, um sich zu wehren. Doch ihren Lippen entrang sich nur ein tiefes, kehliges Röcheln. Die kühle Luft in der Station strich über ihr Haar und ihre Brust. Sie hörte eine Stimme, die leise mit ihr sprach, ein Flüstern, das von weit, sehr weit her kam.
    »Pst ..., beruhige dich, mein Schatz ... mein Engel ... ich bin so froh, dass wir uns endlich wiedersehen ...«
    Das Schild mit der Aufschrift HAXO tanzte vor ihren Augen.
    Blandine fiel in Ohnmacht, in dem festen Glauben, dass sie die gleiche Hölle durchleben würde wie Alice.

46
Nordsee,
Sondereinheit
    Das Boot raste mit vollem Tempo dahin und tauchte in eine aufgewühlte schwarze Masse ein. In unregelmäßigen Abständen durchschnitt der Lichtkegel des Leuchtturms von Dunkerque die Dunkelheit und warf eine rote Schneise ins Nichts.
    Sylvain Carrère, eingemummt in einen Parka, gab die Koordinaten in das GPS an Bord ein: Breitengrad und Längengrad, dann beschleunigte er. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm schleuderte der Doppelmotor am Heck die CZ7 wie einen Holzklotz an die Wasseroberfläche. Die unsichtbare Dünung ließ das Boot abheben, das bald darauf hart gegen Wellenkämme prallte. Alain Broissard schlotterte vorn und überprüfte zum fünften Mal das Magazin seiner Waffe. Ihm war kotzübel.
    Sie hatten das Boot in Calais gemietet und waren Schlag 23 Uhr in See gestochen. Etwa zwölf Kilometer die Küste entlang waren sie in Richtung belgische Grenze gefahren, bevor sie die Stelle passierten, wo die Straße von Dover in die Nordsee übergeht, und in die Finsternis hineinbrausten.
    »Die Kinder von Sangatte«, rief Carrère und deutete auf die kleinen Lichthöfe am Fuß der Steilküste.
    Broissard kniff die Augen zusammen und gewahrte Schatten, die sich an brennenden Kanistern wärmten, behelfsmäßigen Kohlenbecken, die an Warnblinklichter erinnerten. Illegale Einwanderer, Deklassierte aus den ärmlichen Regionen Europas flüchteten sich an die Strände, die England gegenüberlagen. Alain hatte den Eindruck, dass diese Lichter ihm galten. Kleine Leuchtfeuer, die ihn in der Finsternis leiten sollten. Diese Menschen waren Verirrte, genau wie er selbst. Er atmete ihre von der salzigen Gischt wie zerfressene Hoffnungen und versuchte, ihnen etwas von seiner Hoffnung einzuflößen und sie mit ein wenig Liebe zu trösten.
    Broissard verfolgte mit den Augen den Kamm einer Steilwand. Er musterte die Felsmasse und stellte sich Körper in freiem Fall

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