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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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vor – verschwommene Punkte, die an der Felswand nach unten stürzten. Er spürte einen kribbelnden Schwindel. Sein Leben glich diesem Moment – sich ins Unendliche erstreckend. Ein Leben am Rand des Abgrunds.
    Eine ungewöhnlich hohe Welle traf den Außenborder, und Carrère klammerte sich an die Ruderpinne. Die Ebbe erzeugte gegensinnige Strömungen, und das Boot kämpfte, die Motoren auf vollen Touren, um den Kurs zu halten. Broissard zog den Kopf noch etwas tiefer zwischen die Schultern. Eiskalte Gischt schlug ihm ins Gesicht und drang in die Fasern seiner Kleidung. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, die Feuchtigkeit und die Kälte auszublenden. Die Nacht wurde noch dunkler.
    Du ahnst nicht, was das ist. Du kannst es dir nicht einmal vorstellen.
    Die Worte von Christian Franju gingen ihm durch den Kopf, eine betäubende Melodie, die nach und nach den Lärm der Schiffsschrauben übertönte. Das Frösteln wurde stärker und lief ihm den Rücken hinunter. Was würde sie erwarten? Er hatte keinen blassen Schimmer.
    Das Blinken des GPS zeigte an, dass sie den Kreuzungspunkt der Koordinaten erreicht hatten. Die Wolken und die offene See schlossen sich um sie wie ein Trichter. Ohne es zu bemerken, näherte sich Broissard Carrère. Sie beobachteten den Horizont in der Erwartung, dass irgendetwas auftauchen würde.
    »Aber ... verdammt, was ist denn das für ein Mist?«
    Das GPS begann zu rauschen. Die angezeigten Zahlen änderten sich. Interferenzen störten das Signal. Ost und West kehrten sich um. Carrère schüttelte das Gerät, das noch lauter knisterte, bevor es sich überhitzte. Eine Reihe von Blitzen und Funken ließ das Display implodieren. Fassungslos riss der Brigadier den Deckel des Gehäuses ab und schrie durch die Sturmböen hindurch:
    »Die Leitungen sind durchgebrannt. Jetzt haben wir nichts mehr, was uns den Weg zeigt.«
    Broissard hatte das Gefühl, sich innerlich aufzulösen. Verirrt in der Nordsee. Gezwungen, die Dunkelheit blind zu durchqueren. Er hatte einen Mordsbammel. Er fuhr herum und suchte verzweifelt nach etwas, was ihn aus diesem Alptraum herausholen könnte. Kein Mensch im Umkreis von x Kilometern. Eine wogende, tödliche Wüste. Carrère stellte den Motor ab, und die Stille senkte sich bleiern auf sie herab. Man hörte nur noch das Sausen des Windes und die Dünung, die gegen das Boot schlug.
    Alain tauchte seine Hand ins Wasser. Seine Finger brannten vor Kälte. Es hatte höchstens acht Grad.
    Kaltwasserschock.
    Anstieg des Blutdrucks.
    Verlangsamung des Herzschlags.
    Ertrinken.
    Wenn das Schlauchboot kenterte, würden sie nicht überleben. In Todesangst warf er sich auf den Rettungskoffer und nahm eine Signalrakete heraus.
    »Warten Sie! Warten Sie! Hören Sie das?«, schrie Carrère.
    Broissard hielt unvermittelt inne, mit der Hand die einzige Hoffnung umklammernd, mit dem Leben davonzukommen. Er spitzte die Ohren und nahm zunächst nur das Geräusch seines panischen Keuchens wahr. Aber jenseits des Schnaufens, das sich seiner Brust entrang, vernahm er ein regelmäßiges, dumpfes Geräusch, das wie eine unsichtbare Bedrohung aus der Finsternis aufstieg. Er stieß einen Schrei der Überraschung aus, als er entdeckte, worauf Carrère mit dem Finger zeigte.
    Ein tiefschwarzer Punkt in der Wasserfläche wurde schnell größer.
    Sie ließen ihren Geist das krakenartige Ungetüm, das sich auf sie zubewegte, bändigen. Wie dem Nichts entsprungen, ragte eine Bohrinsel Dutzende von Metern über dem Meeresspiegel auf. Die weiße Gischt brach sich an den verrosteten Stützpfeilern, die von einem Stahlgerippe überragt wurden. Gewaltige Rohre flochten sich in die Aufbauten der Plattform. Zwei Kräne streckten sich gen Himmel und schwankten quietschend im Wind. Blassgrüne Positionslaternen zogen sich wie ein Band von Irrlichtern an der stählernen Röhrenkonstruktion entlang.
    Das Boot driftete ab, wie von einer magnetischen Kraft zu der Geisterplattform gezogen. Es drehte sich, mitgerissen von Strudeln, die um die Konstruktion tobten. Der Bug stieß mit voller Wucht gegen einen der Pfeiler, sodass es beinahe gekentert wäre, aber es prallte zurück, hin und her geworfen von den Wellen. Beim zweiten Aufprall gelang es Broissard, eine Eisenstange zu packen, und er klammerte sich mit ganzer Kraft daran, während Carrère das Boot an der Rettungsleiter vertäute.
    Über ihren Köpfen bekam die rostzerfressene Arbeitsbühne der Bohrinsel Risse. Sie warteten einige Minuten, um

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