Die elfte Jungfrau
sanften Trauer. »Er war sehr viel älter als ich, Zunftmeister der Gürtelmacher. Ein aufrechter, ehrbarer Mann von starkem Willen. Dennoch verstanden wir uns gut. Als er krank wurde und merkte, dass sein Leben sich dem Ende näherte, sprachen wir über meine Zukunft. Ich wollte nicht mehr heiraten, und so kaufte er mich hier bei den Beginen ein. Ich bin ihm noch heute dankbar dafür.«
»Ein ungewöhnlicher Mann.«
»Ja, Almut. Einer, der den Frauen Achtung entgegenbrachte und dem meine Meinung wichtig war. Gibt nicht viele davon. Leider. Darum wollte ich auch keinen anderen Ehemann mehr.«
»Ja, ich verstehe.«
»Das tust du wohl. Wenn auch aus anderem Grund. Aber du wirst wieder heiraten, wenn die Zeit gekommen ist.«
»Ich weiß es nicht, ob es je dazu kommen wird.«
»Grüble nicht so viel.«
Das war zwar ein guter Rat, aber schwer zu befolgen.
Die Kapelle wuchs an diesem Tag noch ein merkliches Stück weiter.
33. Kapitel
F idgin war beim Zahnbrecher, Grits Mutter liegt in den Wehen, Hanne und Janne haben das Fleckfieber, Trudes Großmutter wird begraben, und die Aell schwänzt!«
Das war Claras trockene Feststellung am Freitagmorgen.
Almut musterte das zusammengeschrumpfte Häuflein Schülerinnen. Fünf waren es noch, und sie fasste eine kurze Entscheidung.
»Ich muss zu Meister Michael, wer mich begleiten möchte, kann gerne mit zum Dom kommen.«
Lissa, Hilke und Ines schlossen sich ihr an, die beiden Jüngsten wurden zum Lakensäumen ins Refektorium geschickt.
Während des Weges zum Dom hielt Almut den drei Mädchen einen Vortrag über das gewaltige Bauwerk, das sie aufsuchen wollten.
»Ssseit fast hundertdreißig Jahren baut man schon daran?«
Lissa war fassungslos. Derartig lange Zeiträume überschritten das Vorstellungsvermögen der Mädchen. Auch die ungeheure Höhe, die einst die Zwillingstürme erreichen sollten, erstaunte die Schülerinnen, und Almut, ganz Baumeistertochter, ließ die Jungfern eifrig Höhe und Breite, Länge und Tiefe in Zoll, Fuß und Ellen ausrechnen und dann auch noch Mengen an Gestein und Flächen an Glas bestimmen. Unter dieser anstrengenden Tätigkeit erreichten sie bald die betriebsame Baustelle. Der knarrende Kran auf dem Stumpf des Südturms zog gerade eine Last sorgfältig behauener Trachytsteine nach oben, eine Fuhre Holz rumpelte vom Rhein hoch, auf einem Karren lagen zwei in Sackleinen gehüllte Statuen für das Portal. Es hämmerte, Splitter und Funken flogen, Sägen fraßen sich durch Balken und Planken, Wasser schwappte aus den Eimern der Träger, in Bottichen wurde Mörtel angerührt, Bleigießer schürten Feuer unter ihren Kesseln, man rief sich Anweisungen zu, und das eine oder andere Mal erklang auch ein derbes Schimpfwort.
Unter all den geschäftig wirkenden Arbeitern fand Almut recht schnell den Parler heraus und näherte sich ihm. Sie brauchte ihre ganze, nicht unerhebliche Stimmkraft, um sich über dem Lärm verständlich zu machen. Immerhin, der Baustellenaufseher erkannte sie und schickte einen der jungen Burschen los, den Meister Michael zu holen.
Der Dombaumeister ließ die Begine nicht lange warten. Er kam mit langen Schritten auf sie zu und begrüßte sie und ihre Begleiterinnen überaus freundlich. Nach dem Austausch von Höflichkeiten und Nachfragen nach Familie und Befinden wollte Meister Michael dann wissen: »Und, Frau Almut, seid Ihr wieder gekommen, um kniffelige Fragen der Statik zu erörtern?«
»Noch ist mein Kapellchen standfest und nicht vom Einsturz bedroht. Aber ich habe in der Tat eine Frage an Euch. Wie es sich ergab, hat ein gütiger Stifter uns farbige Glasfenster versprochen.«
»In der Art derer, die wir im Chor haben? In buntem Teppichmuster? Oder mehr eine Reihe von Bibelfenstern, Frau Almut? Auf jeden Fall aber doch ein prächtiges Stifterwappen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich, vor allem, weil meine beiden Fenster ja gerade zwei Fuß breit sind und ganze vier Fuß hoch«, kicherte Almut. »Aber eine Rosette hätte ich auch noch …«
»Ein großes Werk, Frau Kollegin!«
»Doch vielleicht ein wenig bescheidener als das Eure, Meister Michael. Der Parler meines Vaters berichtete mir, Meister Ingolf arbeite für Euch. Glaubt Ihr, er würde sich herablassen, ein einfaches Muster in Rot und Gelb für mich zu entwerfen?«
»Zur höheren Ehre Gottes, denke ich, wird er es tun. Seine Schwester ist Begine wie Ihr, und er spricht oft mit Bewunderung von ihr. Ich will ihn die nächsten Tage zu Euch schicken, damit
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