Die elfte Jungfrau
Barmherzigkeit hatte ein Einsehen, und ihre Tochter berührte plötzlich noch einmal die Wange, an der seine Hand gelegen hatte.
»O Maria, voll der Gnaden, ich fragte nicht mehr ob, sondern nur mehr wann!«
40. Kapitel
L issa hatte kurz vor dem Läuten der Glocken zur
Komplet den letzten Korb mit der Wäsche bei dem Zunftmeister abgeliefert, für den ihre Mutter die letzten Tage gewaschen hatte, und erfreute sich jetzt einer kleinen Freiheit. Natürlich wurde sie zu Hause erwartet, aber die Wege waren lang, und manchmal musste man eben bei den misstrauischen Hausfrauen die Hemden nachzählen oder die Laken auseinanderfalten. Unbelastet von den schweren Körben, machte sie sich beschwingt auf den Weg zum Holzmarkt. Die Dämmerung nistete schon unter den vorkragenden Obergeschossen der Häuser, und die Händler hatten ihre Stände und Buden bereits geschlossen. Es waren nur noch wenige Menschen in den Straßen unterwegs, und alleine sollte sie eigentlich nicht mehr durch die Stadt gehen. Aber sie vertraute darauf, dass ihr neuer Freund sie später nach Hause begleiten würde.
Der Schreinemaker begrüßte sie mit großer Freundlichkeit und schenkte ihr warmen Wein ein. Einen Stuhl schob er ihr an den Kamin und entzündete auch zwei weitere Lampen auf dem Sims.
»Ihr habt weiter daran gearbeitet?«, fragte Lissa und deutete auf die halb fertige Büste, die auf dem Tisch stand.
»Nein, nein. Das ist ein sehr viel einfacherer Auftrag. Nur ein Allerweltsgesicht. Wartet, ich will unser gemeinsames Werk holen.«
Lissa fühlte sich geschmeichelt - als sie den Schreinemaker das erste Mal besucht hatte, hatte er sich fasziniert von ihrem Gesicht gezeigt und den Wunsch geäußert, es als Vorlage für eines seiner schönen Ursulareliquiare zu nehmen. Nur, das hatte sie ihm versprechen müssen, dürfe sie niemandem etwas davon erzählen, denn pedantische Menschen könnten es womöglich als Lästerung der heiligen Jungfrau auslegen, wenn er dem Behälter für die Reliquien die Züge eines wirklichen Mädchens gab.
Zu gerne hatte sie eingewilligt, nicht nur wegen der Ehre, sondern auch, weil sie mit dem Schreinemaker ein Geheimnis teilte. Und nun schaute er sie wieder so bewundernd über die lebensgroße Büste an und erzählte ihr, wie strahlend er ihre Augen fände. Er bat sie auch, die Haare zu lösen, und drückte ihr einen zierlichen Goldreif auf das unbedeckte Haupt. Beinahe zärtlich strich die Feile über die hölzernen Wangen, liebevoll formte der Stichel die dichten Locken, sanft wischte er die feinen Holzpartikelchen ab, die sich bei der Bearbeitung bildeten. Und immer wieder kam er zu ihr hin, um mit vorsichtigen Fingern ein Detail nachzufahren. Den Schwung der Augenbrauen, die Biegung ihrer Kehle, die Wölbung ihrer Lippen. Dabei lächelte er sie versonnen an, und manchmal flüsterte er ihr zu, wie schön sie sei.
Es war so lauschig warm im Raum, es duftete nach Holz und Harz und würzigem Wein, und Lissa war beinahe versucht, sich den forschenden Fingern entgegenzuschmiegen. Doch dann erklang die Stimme des Nachtwächters vor dem Haus, und sie zuckte zusammen.
»O mein Gott, Claas. Die Mutter wird mir einen Höllentanz machen, wenn ich nicht bald nach Hause komme. Bringt mich heim. Bitte.«
»Natürlich, Liebchen. Aber du kommst wieder, nicht wahr?«
»Sobald ich kann. Nächste Woche wird die Mutter zu meiner Muhme gehen, dann kann ich länger bleiben.«
Der Schreinemaker legte dem Mädchen das Wolltuch um die Schultern und schlüpfte selbst in seinen Umhang. Auf dem Rückweg plauderten sie freundschaftlich miteinander, und Lissa berichtete ihm von den schaurigen Gerüchten, die sie über den Apotheker und seine junge, taubstumme Gehilfin am Neuen Markt gehört hatte.
»Die Gebeine der Ursulajungfrauen liegen in seinem Keller?«
»So sagt man. Sie beschützen ihn vor den Dämonen aus der Hölle.«
Claas Schreinemaker beruhigte sie, das seien nur dumme Hirngespinste. Doch er merkte sich den Hinweis sehr wohl.
41. Kapitel
R igmundis’ Vorhersage war eingetreten, der Regen hatte nachgelassen, und es war wärmer geworden. Der Apfelbaum vor der Mauer blühte in seiner ganzen weißen Pracht, die Vögel schmetterten in ihre Morgenlieder, und Almut packte ihre Webarbeiten sorgsam in den Korb. Die Zeit für Handarbeiten war vorbei, jetzt würde sie endlich den vorderen Giebel des Kapellchens hochziehen. Gertrud hatte von Corinne eine neues Rezept für eine Fastentorte erhalten, und das eintönige Essen wurde
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