Die elfte Jungfrau
Ursula? In einer Frostnacht im eisigen Garten der Schiderichs? In einem Abfallhaufen in der Krebsgasse? Unter dem Beschuss der Söldner an der Stadtmauer?«
»Nicht gänzlich undenkbar, aber doch ziemlich abwegig. Wir sollten diese These mit geringerer Wichtigkeit behandeln. Er ermordet sie nicht in der Hitze der Leidenschaft, sondern danach, was auf ein willentliches Handeln schließen lässt.«
»Ein kaltblütiger Mann.«
»Umso gefährlicher, Begine.«
»Er hat einen Grund, der zumindest ihm plausibel erscheint.«
»Der sich aber unseren Gedankengängen verschließt, weil er aberwitzig ist.«
»Weshalb wir seine nächsten Schritte, sein nächstes Opfer nicht vorhersehen können. Ein Webfehler, Pater, im Muster, dessen Herkunft und Ursache wir noch nicht herausgefunden haben.«
»Wir verfolgen noch immer die Dämonin, fürchte ich.«
»Ja, denn wenn wir sie kennen würden, wäre uns auch klar, warum er so handelt.«
»Und wir könnten ihn verleiten, unter unseren Augen zu handeln.«
»Großer Gott, Pater, wollt Ihr ihn zu einem weiteren Mord ermutigen? Wollt Ihr eine Jungfrau opfern, um das Böse zu entlarven?«
»Nein. Man müsste sie ausreichend schützen können...«
»Auch Euch mangelt es nicht an Kaltblütigkeit.«
»Ich weiß, Begine, kaltblütig, unbarmherzig und hornhäutig - ein wenig einnehmender Charakter.«
»Nehmt noch Hochmut, Herrschsucht und Unbelehrbarkeit dazu.«
»Gerne. Ihr wisst doch, ›Krumm kann nicht gerade werden, noch was fehlt, gezählt werden.‹«
»Und auch das ist eitel und ein Haschen nach dem Wind.«
»Ihr meint, ich sei stolz darauf?«
»Nein, Pater, das seid Ihr nicht. Wie geht es Eurem Vater?«
»Er macht seinen Neffen in den Kontoren das Leben zur Hölle und scheucht meine Schwester und ihre Schwägerin mit Dutzenden von Aufträgen umher.«
»Das hört sich an, als ob er voller Tatkraft wäre.«
»Er will sein Haus bestellen. Ich hoffe, sein Herz lässt ihn nicht im Stich. Besucht ihn, wenn Ihr die Erlaubnis dazu bekommt. Ihr habt ihn sehr für Euch eingenommen, Begine.«
»Das will ich tun.«
Der Benediktiner stand auf, und auch Almut erhob sich.
»Ich verlasse morgen die Stadt wieder. Gebt mir Euer Wort, nichts weiter zu tun, als nachzudenken. Ihr habt selbst erkannt, wie groß die Gefahr ist. Ich bin zum Osterfest wieder zurück, dann können wir weitersehen.«
»Und wenn in der Zwischenzeit eine weitere Jungfrau ermordet wird?«
»Hoffen wir, dass es nicht geschieht. Wenn doch, wendet Euch an Krudener oder Theodoricus. Sie sollen die Angehörigen dazu bringen, es im Turm zu melden. Unternehmt aber auf gar keinen Fall selbst etwas.«
»Nein. Ich werde weiterhin weben, und wenn das Wetter besser wird, weiterbauen. Ach, Pater, Rigmundis hatte vorhin wieder so einen Anflug von Vision, und sie sagte irgendwas über den Winter, der vergangen, und den Regen, der dahin und vorbei ist.«
»›Die Blumen sind aufgegangen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserem Land.‹«
»Ihr kennt den Text?«
»Ja, Begine. Es ist ein sehr altes Lied.«
»Es scheint mir sehr schön zu sein.«
»Es ist eines der schönsten der Welt, und ich verspreche Euch, auch Ihr werdet es einmal zur Gänze kennenlernen.«
Er hob seine Hand, um ihr mit dem Zeigefinger ganz leicht über die Wange zu fahren. Almut ergriff diese Hand und hielt sie an ihr Gesicht gedrückt. Sie hob ihre Augen zu ihm auf, aber sie sagte kein einziges Wort, auch wenn ihr viele auf den Lippen brannten. Er aber schien ihre Gedanken lesen zu können und empfahl ihr mit einem beinahe zärtlichen Lächeln: »Studiert weiter die Schriften des Predigers, Begine, dort werdet Ihr auf Eure Frage Antwort finden.« Sie hob leicht eine Augenbraue, und er zitierte: »›Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.‹ Und so hat Schweigen seine Zeit, und Reden hat seine Zeit...« Er entzog ihr sachte seine Hand. »Die Mutter der Barmherzigkeit begleite Euch alle Tage, Begine.«
Und wie üblich ging er schnell fort. Almut sah ihm vom Fenster aus nach, wie er, in die schwarze Kukulle gehüllt, durch den Regen zum Tor hinauseilte.
»›… Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit, Klagen hat seine Zeit, Tanzen hat seine Zeit, Herzen hat seine Zeit, Sichenthalten hat seine Zeit, Suchen hat seine Zeit, Verlieren hat seine Zeit...‹«, murmelte Almut vor sich hin. »Aber ich wüsste gerne, Maria, wann es Zeit ist.«
Die Mutter der
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