Die elfte Jungfrau
Hände sind gebunden.«
Höchst überrascht, sog Aziza die Luft ein.
»Du magst zwar diesen hässlichen grauen Kittel tragen, Schwester. Aber ich habe noch nie bemerkt, dass er dich an irgendetwas gehindert hätte, außer vielleicht einer Übertretung deines Keuschheitsversprechens. Wer hat dir Fesseln angelegt? Die gestrenge Meisterin oder dein gestrenger Pater?«
»Die Umstände.«
Aziza schüttelte den Kopf. »Esteban hat mir erzählt, was deine Vermutungen sind, Schwester. Du glaubst, jemand bringt die Jungfrauen um. Und jetzt willst du mir weismachen, es kümmert dich nicht mehr?«
»Ich sagte schon, ich kann nichts tun!«
»Aber ich, Frau Almut. Ich verstehe, Ihr könnt Euch als Begine nicht frei bewegen, Ihr habt nicht überall Zutritt, wohin sich Männer wenden können, und manche Orte solltet Ihr als junges Weib auch wirklich nicht betreten. Aber ich habe inzwischen ein großes Verlangen danach, herauszufinden, was mit Christine wirklich geschah. Fabio hat mir erzählt, was Ihr ihn gefragt habt.«
Almut hob abwehrend die Schultern.
»Ihr wolltet wissen, ob sie sich in den Tagen vor ihrem Tod seltsam benommen hat, nicht wahr? Und er hat Euch gesagt, sie sei zappelig gewesen. Ich kann Euch sogar noch mehr verraten, Frau Almut. Im Herbst noch war sie scheu, aber freundlich, und als der Winter begann, hatte ich allmählich den Eindruck, sie erwidere meine Gefühle. Dann aber, um die Weihnachtszeit herum, wirkte sie unruhig, aber seltsam verschwiegen. Sie zog sich von uns zurück. Ich wagte es dennoch und bat sie am Neujahrstag, mein Weib zu werden. Sie lehnte es ab und stammelte wirre Begründungen, sie müsse sich um ihren lahmen Vater kümmern. Ich dachte, mein Antrag sei zu überraschend gekommen, und wollte ihr noch etwas Zeit lassen, um dann noch einmal zu fragen. Ich kam nicht mehr dazu. Heute, Frau Almut, denke ich, sie hat zu jener Zeit möglicherweise schon einen anderen Mann getroffen, der ihr weit mehr bedeutete als ich.«
»Ihr wisst nicht, wen? Ihr habt keine Vermutung?«
»Es gab nicht viele Männer, mit denen sie zusammenkam. Zumindest nicht offen.«
»Ja, jener, der die Jungfrauen umbrachte, bestand auf Heimlichkeit!«
»Ihr wisst, wer er ist?«
Aufmerksam richtete Esteban sich auf, und Almut hätte sich am liebsten die vorwitzige Zunge abgebissen, die ihr diesen Streich gespielt hatte.
»Nein. Aber es ist, soweit ich es erfahren habe, immer dasselbe, was geschehen ist«, erklärte sie hastig. »Pia traf sich nachts mit ihm, die Stiftsjungfer entwischte heimlich, die Gisela Schiderich und Sanna ebenfalls.«
»Und Christine war die Nacht zuvor nicht zu Hause. Ein heimlicher Geliebter also auch bei den anderen?«
»Es sieht so aus.«
Esteban knirschte hörbar mit den Zähnen.
»Er tändelt mit ihnen, er macht sie in sich verliebt und bringt sie dann um. Richtig, Frau Begine?«
»Es scheint so.«
»Wer ist dein neuer Geliebter, Aziza?«, fuhr er plötzlich Almuts Schwester an.
Noch nie hatte Almut Aziza derartig wütend gesehen. Aus ihren dunklen Augen schossen Blitze, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
»Was wagst du eigentlich, mir für Fragen zu stellen, Esteban?«
Er hob abwehrend die Hände.
»Verzeih, aber du hast einen. Man hat euch zusammen gesehen, und er hat dich hier besucht.«
»Demnach haben wir Heimlichkeit nicht nötig. Trotzdem geht es dich nichts an.«
»Keiner kennt ihn, er ist fremd hier.«
»Du warst auch fremd hier!«, fauchte Aziza. »Das ist kein Grund, ihn zu verdächtigen.«
»Und wenn er der Mörder ist?«
»Er war zum Dreikönigstag noch nicht in der Stadt.«
»Sagt er.«
Almut schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und rief laut: »Ruhe!« Etwas nüchterner erklärte sie dann: »Jener Mann scheint es auf Jungfrauen abgesehen zu haben. Und er treibt sein Unwesen schon seit dem Sommer vergangenen Jahres.« Almut schob ihrer Schwester das Päckchen Borten zu, das sie aus ihrer Tasche gezogen hatte. »Und das, Aziza, habe ich mit meiner rauen Hände Arbeit für dich gewoben. Doch nicht um Gottes Lohn!«
Azizas Wut ließ augenblicklich nach, und flink öffnete sie das Leinentuch.
»Oh... Also, Schwester, du übst dich in der Kunst der Verführung.«
»Dein gelbes Kleid möchten sie wohl zieren.«
»Das möchten sie allerdings. Aber ich fürchte, so kostbare Goldborte werde ich mir nicht leisten können.«
»Dann will ich sie Frau Barbara vorlegen.«
»O nein, das wirst du nicht. Lass uns handeln!«
»Ich bin höchst ungeschickt
Weitere Kostenlose Bücher