Die elfte Jungfrau
reichte ihr den Becher, der neben dem Kaminfeuer warm gehalten wurde, und sie winkte Trine, sie zu begleiten.
Esteban hatte das gesunde Auge geschlossen, seine Hände hatte er über der Brust wie zum Gebet gefaltet. Doch er blickte Almut an, als sie sich zu ihm neigte.
»Seid so gut und trinkt dieses hier. Es wird Euch gegen die Schmerzen und das Fieber helfen und Euch einen heilsamen Schlaf schenken.«
»Lasst nur, Frau Almut. Die Schmerzen muss ich ertragen, und mein Schlaf wird nicht mehr heilsam sein.«
»Das, Esteban, liegt in Gottes Hand. Trinkt, mir zuliebe.«
Vorsichtig brachte sie den Becher an seine Lippen, aber er kostete lediglich davon.
»Womit habe ich den süßen Trunk verdient, Frau Begine?«
»Mit all der Liebe, Esteban, die Ihr in Eurem Leben verschenkt habt.«
Er schüttelte den Kopf.
»Es war keine Liebe in mir, nur der Wunsch nach Rache.«
»Heute. Das ist möglich. Aber in Eurem Leben hat es Liebe gegeben, nicht wahr? Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr die Mutter Eures Sohnes einst sehr geliebt habt.«
»Fernanda … Ich werde zu ihr gehen.«
»Und was werdet Ihr zu ihr sagen, wenn sie nach Eurem Sohn fragt?«
»Dass ich ihn alleine lassen musste. Wie kann ein Mörder sein Vater sein?«
»Ihr habt gekämpft.«
»Ich habe ihn getötet.«
»Was werdet Ihr Christine sagen?«
Sie hielt ihm den Becher wieder an die Lippen, aber er schüttelte nur den Kopf.
»O Gott! Er war ihr Mörder, Frau Almut, wie Ihr sagtet. Als Ihr mich fragtet, wem ich das Reliquiar verkaufte, zusammen mit dem Andachtsbildchen, das Christine gemalt hatte, wurde mir das klar. Ich durchsuchte noch einmal Christines Habseligkeiten und fand darunter in einem Kästchen viele Male sein Abbild und zwei kleine Schnitzereien. Ich wusste zwar, dass sie einander begegnet sind, ahnte jedoch nicht, dass er es war, dem sie ihre Liebe schenkte. Ich wollte ihn zur Rede stellen, aber er war nicht da. Aber ich fand bei ihm ihr Porträt - geschnitzt in Holz. Da war ich mir sicher, er müsse ihr Mörder gewesen sein.«
»Er war kein fühlender Mensch. Ihr hingegen seid es, Esteban. Und ich glaube, Ihr werdet der Verpflichtung nicht aus dem Weg gehen, die Ihr auf Euch genommen habt.«
»Habe ich noch eine Verpflichtung?«
»Ich will Euch etwas aus dem Leben jenes Mannes erzählen, der nun tot ist. Hört, Esteban, hört mir gut zu. Als Claas Schreinemaker ungefähr so alt wie Euer Sohn war, starb seine Mutter, wurde seine Schwester geschändet, und sein Vater ging in den Tod aus Gram darüber. In jener Zeit verwirrte sich sein Geist - vor Trauer, vor Wut, vor Schmerz. Ich weiß es nicht. Er schlug den falschen Weg ein.«
Trine hatte sich an das Kopfende der Ruhebank gestellt und ihre Hand ganz leicht auf seine Schultern gelegt. Nun berührte sie vorsichtig den Verband über seinem Auge.
Die Qualen in Estebans Zügen ließen ein wenig nach, und Almut wusste, die lindernde Kraft, die aus Trine zu fließen schien, erreichte ihn nun.
»Was soll ich Fabio denn sagen, Esteban? Dass Ihr nicht mehr in Eure Heimat reisen könnt, nur weil Ihr an ein paar kleinen Messerwunden sterben wollt?«
»Ein wenig mehr ist es schon.«
»Richtig, Ihr habt ein Auge verloren. Ich glaube, Euer Sohn wird Euch eine große Hilfe sein, was das anbelangt. Er ist Euch sehr ähnlich. Ein liebevoller Junge mit einem fürsorglichen Herzen. Wenn Ihr bei ihm bleibt, wird er ein wunderbarer Mann werden. Wenn Ihr ihn aber verlasst...«
»Ja, wenn ich ihn verlasse... Aber wie Ihr sagt, es liegt in Gottes Hand.«
»Ja, Esteban, wie es die Heilige Schrift sagt: Alles hat seine Zeit. ›Geborenwerden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit, Pflanzen hat seine Zeit, Ausreißen hat seine Zeit, Töten hat seine Zeit, Heilen hat seine Zeit …‹«
Estebans Blick richtete sich in eine unbestimmte Ferne, und Almut blieb ganz still bei ihm sitzen. Dann aber sah er sie wieder an und bat: »Gebt mir diesen Arzneitrank!«
Mit einem verständnisvollen Lächeln setzte sie ihm wieder den Becher an die Lippen, und diesmal trank er ihn ganz aus.
»Schlaft, Esteban. Ich werde für Euch beten. Und ich werde mich um Euren Sohn kümmern.«
»Danke, Frau Almut.«
Sie blieb noch bei ihm sitzen, bis der Schlummer ihn übermannte, dann ging sie leise zurück zu den anderen. Trine aber gab ihr zu verstehen, sie wolle bei ihm wachen.
»Er hat die Arznei ausgetrunken.«
»Das habt Ihr gut gemacht, Frau Almut.«
»Besser als ich, offensichtlich«, brummte Pater Ivo.
»›Ich
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