Die Elite
so die Sorgen vertreiben.
Als sie schließlich mein Kleid aus der Hülle zog, war ich mir sicher, dass etwas Schreckliches passiert war. Es war dezent, schlicht – und pechschwarz. Das konnte nur eins bedeuten. Ohne zu wissen, um wen ich überhaupt trauerte, fing ich an zu weinen.
»Miss?« Mary eilte mir zu Hilfe.
»Wer ist gestorben?«, fragte ich. »Wer ist gestorben?«
Beherzt wie immer richtete Anne mich auf und wischte mir die Tränen weg. »Niemand ist gestorben«, sagte sie. Aber in ihrer Stimme lag kein Trost, sondern ein Befehl. »Seien Sie dankbar, wenn all das vorbei ist. Heute ist niemand gestorben.«
Ohne weitere Erklärungen schickte sie mich ins Bad. Lucy versuchte sich die ganze Zeit zusammenzureißen, doch als sie schließlich ebenfalls in Tränen ausbrach, forderte Anne sie auf, mir ein leichtes Frühstück zu besorgen.
Nachdem ich angekleidet war, kehrte Lucy mit ein paar Croissants und Apfelstückchen zurück. Doch bereits nach einem Bissen wusste ich, dass ich heute nichts hinunterbringen würde.
Schließlich befestigte Anne noch ein Namensschild an meiner Brust. Das Silber leuchtete wunderschön auf dem Schwarz meines Kleids. Nun blieb mir nichts anderes mehr übrig, als einem unwägbaren Schicksal entgegenzutreten.
Als ich die Tür öffnete, merkte ich, wie ich erstarrte. Ich drehte mich noch einmal zu meinen Zofen um und versuchte meine Angst mit einem tiefen Atemzug zu vertreiben. »Ich fürchte mich.«
Anne legte mir die Hände auf die Schultern. »Sie sind jetzt eine Dame, Miss. Und Sie müssen sich wie eine solche verhalten.«
Ich nickte leicht, als sie mich losließ, und ging davon. Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich das hocherhobenen Hauptes tat. Doch in Wahrheit, Dame hin oder her, hatte ich schreckliche Angst.
Als ich die große Treppe erreichte, sah ich zu meiner Überraschung die übrigen Mädchen dort warten. Alle trugen dieselben Kleider und Mienen zur Schau wie ich. Eine Welle der Erleichterung erfasste mich. Ich war nicht das Problem. Wenn überhaupt, dann ging es um uns alle, also würde ich es zumindest nicht allein durchstehen müssen.
»Die Fünfte ist da«, sagte einer der Wachmänner zu seinem Kollegen. »Folgen Sie uns, meine Damen.«
Die Fünfte? Da stimmte doch was nicht. Es musste sechs heißen. Während wir die Treppe hinuntergingen, sah ich mich kurz unter den Mädchen um. Der Wachposten hatte recht. Wir waren nur zu fünft. Marlee war nicht dabei.
Mein erster Gedanke war, dass Maxon Marlee nach Hause geschickt hatte. Aber wäre sie dann nicht bei mir vorbeigekommen und hätte sich verabschiedet? Ich versuchte einen Zusammenhang zwischen dieser ganzen Geheimnistuerei und Marlees Abwesenheit herzustellen, doch alles, was mir einfiel, ergab keinen Sinn.
Am Fuß der Treppe wartete eine Gruppe von Soldaten mit unseren Familien. Mom, Dad und May wirkten irgendwie ängstlich. Alle anderen auch. Ich blickte sie fragend an, in der Hoffnung auf irgendeine Erklärung, doch Mom schüttelte nur den Kopf. Ich suchte die Reihen der Soldaten nach Aspen ab, doch er war nicht dabei.
Auf einmal sah ich, wie Marlees Eltern in Begleitung zweier Wachen hinter uns Aufstellung nahmen. Ihre Mutter war gramgebeugt. Sie stützte sich auf ihren Mann, dessen Gesicht so aussah, als sei er innerhalb einer Nacht um Jahre gealtert.
Moment mal. Wenn Marlee ausgeschieden war, warum waren ihre Eltern dann noch hier?
Ich wandte mich um, als plötzlich helles Licht die Empfangshalle durchflutete. Das erste Mal, seit ich im Palast war, stand das Eingangsportal weit offen, und wir wurden nach draußen geführt. Wir überquerten den großen Vorplatz und schritten an den dicken Mauern entlang, die das Palastgelände umgaben. Als sich die Tore knarrend öffneten, schlug uns der ohrenbetäubende Lärm einer riesigen Menschenmenge entgegen.
Auf der Straße war ein großes Podest errichtet worden. Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Menschen waren hier versammelt, die Kinder saßen teilweise auf den Schultern ihrer Eltern. Um das Podest herum wurden gerade Kameras aufgestellt und Filmleute liefen vor die Menge und fingen die Szene ein. Wir wurden zu einem kleinen Tribünenbereich geführt, und während wir dort hinmarschierten, applaudierte die Menge. Die Leute riefen unsere Namen und warfen uns Blumen zu, und ich merkte, wie sich die Mädchen vor mir allmählich entspannten.
Als die Menge meinen Namen rief, hob ich die Hand und winkte. Ich kam mir dumm vor, weil ich mir
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