Die Elite
Sorgen gemacht hatte. Wenn die Menschen so fröhlich waren, dann konnte doch auch nichts Schlimmes passieren. Die Dienerschaft im Palast musste die Art ihres Umgangs mit der Elite wirklich noch einmal überdenken. All die Aufregung wegen nichts.
May kicherte, sie genoss es sichtlich, Teil der allgemeinen Euphorie zu sein, und ich war erleichtert, dass sie wieder ganz die Alte war. Ich bemühte mich, auf all die guten Wünsche der Leute zu reagieren, doch der Anblick zweier seltsamer Vorrichtungen auf dem Podest lenkte mich ab. Das Erste war ein leiterartiges Gerüst in A-Form, das Zweite ein großer Holzklotz mit Schlaufen an beiden Seiten. Begleitet von einem Wachmann ließ ich mich auf meinem Sitz in der Mitte der ersten Reihe nieder und versuchte herauszufinden, was hier eigentlich vor sich ging.
Kurz darauf erschienen der König, die Königin und Maxon. Wieder brach die Menge in Jubel aus. Die drei waren ebenfalls dunkel gekleidet und wirkten sehr ernst. Ich drehte mich in Maxons Richtung. Was auch immer jetzt passierte, wenn er mich ansah und lächelte, würde alles gut werden. Ich versuchte ihn dazu zu bringen, mich anzublicken und mir irgendein Zeichen zu geben. Doch sein Gesicht war wie versteinert.
Einen Augenblick später gingen die Hochrufe der Menge in Schmähungen über, und ich wandte mich um, weil ich sehen wollte, was sie so erzürnte.
Beim Anblick, der sich mir bot, zog sich mein Magen zusammen. Officer Woodwork wurde in Ketten herausgeführt. Seine Lippen bluteten und seine Kleider waren so schmutzig, dass es aussah, als hätte er sich die ganze Nacht im Schlamm gewälzt. Hinter ihm kam Marlee. Ihrem Engelskostüm fehlten die Flügel, und es war ebenfalls völlig verschmutzt. Auch sie war gefesselt. Eine Anzugsjacke bedeckte ihre Schultern, und sie blinzelte im hellen Licht.
Für einen winzigen Sekundenbruchteil begegneten sich unsere Blicke. Doch schon im nächsten Moment wurde sie weitergezerrt. Ihre Augen suchten die Menschenmenge ab, und ich wusste, nach wem sie Ausschau hielt. Zu meiner Linken sah ich Marlees Eltern, die fest aneinandergeklammert die gespenstische Szene beobachteten. Sie wirkten, als ob sie jeglichen Halt verloren hätten.
Ich schaute wieder zu Marlee und Officer Woodwork. Die Angst in ihren Gesichtern war unübersehbar, dennoch verriet ihre Haltung einen gewissen Stolz. Nur einmal, als Marlee über den Saum ihres Kleids stolperte, bekam diese Fassade einen Riss, und das blanke Entsetzen dahinter wurde sichtbar.
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein.
Die Beiden wurden auf das Podest geführt, und ein Mann mit Maske ergriff nun das Wort. Die Menge verstummte.
Ganz offenbar hatte das hier – was immer es auch war – schon einmal stattgefunden, und die Leute wussten, wie sie sich zu verhalten hatten. Ich jedoch wusste es nicht. Ich zitterte, und wieder drehte sich mir der Magen um. Zum Glück hatte ich nichts gegessen.
»Marlee Tames«, rief der Mann, »Mitglied der Elite, Tochter Illeás, wurde letzte Nacht in einer intimen Situation mit diesem Mann überrascht – Carter Woodwork, einem Soldaten der königlichen Garde!«
Die Stimme des Anklägers triefte nur so vor Selbstgefälligkeit. Wieder buhte die Menge angesichts seiner Beschuldigungen.
»Miss Tames hat ihr Loyalitätsgelübde gegenüber Prinz Maxon gebrochen! Und Mr Woodwork hat sich durch seine Beziehung zu Miss Tames am Eigentum der königlichen Familie vergriffen! Diese Vergehen sind Verrat an der Königsfamilie!« Er schrie seine Anschuldigungen jetzt heraus in der Absicht, die Zustimmung der Menge zu erlangen. Und die Menschen kamen seiner Aufforderung nach.
Aber wie konnten sie nur? Wussten sie denn nicht, dass das hier Marlee war? Die süße, wunderhübsche, treuherzige, großzügige Marlee? Vielleicht hatte sie einen Fehler begangen, jedoch nichts, wofür sie solchen Hass verdiente.
Carter wurde von einem weiteren maskierten Mann an das A-förmige Gerüst gebunden. Dazu spreizte man seine Beine und brachte seine Arme in Position. Um seine Taille und seine Beine wurden gepolsterte Gurte gelegt, die so fest zugezogen wurden, dass es selbst von meinem Platz aus mehr als unbequem aussah. Marlee wurde dazu gezwungen, sich vor den großen Holzklotz zu knien. Ein Mann riss ihr das Jackett vom Rücken und fixierte ihre Hände mit nach oben geöffneten Handflächen in den Schlaufen.
Sie weinte.
»Ein solches Vergehen wird mit dem Tod bestraft! Aber in seiner großen Güte schenkt Prinz Maxon diesen
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