Die Elite
sein.
Eilig stieg ich die Treppe zu meinem Zimmer empor. Es war doch klar, wer die anonyme Quelle der Zeitschrift war.
»Lady America!«, sagte Anne überrascht, als ich durch die Tür trat. »Ich dachte, Sie würden bis zum Mittagessen unten bleiben.«
»Könnten Sie bitte gehen?«
»Verzeihung?«
Ich schnaubte und bemühte mich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich möchte bitte allein sein.«
Meine Zofen knicksten verdutzt und verließen wortlos den Raum. Ich ging hinüber zum Klavier und versuchte, mich ein wenig mit Musik abzulenken. Ich spielte ein paar Lieder, die ich auswendig kannte, aber das half nicht viel. Ich musste mich wirklich ernsthaft auf etwas konzentrieren.
Ich stand auf und suchte im Klavierhocker nach anspruchsvolleren Stücken. Beim Durchblättern meiner Noten fiel mein Blick auf Gregory Illeás Tagebuch. Das hatte ich ja völlig vergessen! Es würde mich bestimmt schnell auf andere Gedanken bringen. Vorsichtig trug ich das Buch hinüber zum Bett.
Wie von selbst öffnete es sich auf der Seite mit dem Halloween-Foto, denn das dicke Fotopapier wirkte wie ein natürliches Lesezeichen. Noch einmal las ich den Beginn des Eintrags.
Die Kinder haben dieses Jahr an Halloween eine Party gefeiert. Ich vermute, auf diese Weise können sie vergessen, was um sie herum geschieht. Doch mir kommt es geradezu frivol vor. Wir sind eine der wenigen Familien, die überhaupt noch genug Geld haben, um ein Fest zu veranstalten, doch dieser Kinderkram ist reine Verschwendung.
Neugierig betrachtete ich das Foto, das Mädchen interessierte mich besonders. Wie alt sie wohl war? Was hatte sie für Aufgaben? Gefiel es ihr, Gregory Illeás Tochter zu sein? Machte sie das sehr beliebt?
Als ich die Seite umblätterte, stellte ich fest, dass es dort keinen neuen Eintrag gab. Stattdessen führte Gregory Illeá seine Gedanken weiter aus.
Ich glaube, ich hatte damit gerechnet, dass wir nach dem Einmarsch Chinas unsere Fehler klar erkennen würden. Es ist nämlich offensichtlich, wie faul wir geworden sind, vor allem in letzter Zeit. Daher ist es kein Wunder, dass China unser Land so leicht besetzen konnte und dass wir so lange gebraucht haben, um zurückzuschlagen. Wir haben den Kampfgeist verloren, der Menschen Ozeane überqueren lässt und sie durch verheerende Winter oder Bürgerkriege bringt. Wir sind bequem geworden. Und während wir uns zurückgelehnt haben, hat China die Zügel in die Hand genommen.
Während der letzten Monate ist in mir der Wunsch gewachsen, die Kriegsanstrengungen mit mehr als nur mit Geld zu unterstützen. Ich möchte künftig vielmehr als Anführer Einfluss geltend machen. Ich habe Ideen, und da ich so großzügig gespendet habe, ist nun der Zeitpunkt gekommen, sie auch kundzutun. Wir brauchen eine Veränderung. Und mittlerweile frage ich mich, ob ich vielleicht die einzige Person bin, die sie herbeiführen kann.
Schauer liefen mir über den Rücken. Automatisch verglich ich Maxon mit seinem Vorgänger. Gregory schien eine Vision zu haben. Er wollte das zerstörte Land wieder aufbauen und es unter seiner Herrschaft einen. Unwillkürlich fragte ich mich, was er über die Monarchie sagen würde, wenn er sie heute erleben könnte.
Als Aspen in dieser Nacht leise meine Tür öffnete, wäre ich am liebsten mit allem herausgeplatzt, was ich gelesen hatte. Doch dann fiel mir ein, dass ich das Tagebuch bereits gegenüber meinem Vater erwähnt und schon dadurch mein Versprechen gebrochen hatte.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragte er und kniete sich neben mein Bett.
»Na ja, Celeste hat mir heute diesen Artikel gezeigt.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt darüber reden will. Ich habe sie so satt.«
»Ich schätze, jetzt, da Marlee weg ist, wird Maxon wohl eine Weile niemanden mehr nach Hause schicken, oder?«
Ich hob zweifelnd die Schultern. Mir war klar, dass die Bevölkerung sich auf eine Entscheidung gefreut hatte. Und was mit Marlee passiert war, war viel dramatischer, als alle erwartet hatten.
»Hey«, sagte er und im Mondlicht, das durch die offenstehende Balkontür fiel, riskierte er eine kurze Berührung. »Alles wird gut.«
»Ich weiß. Aber ich vermisse sie so sehr. Und ich bin verwirrt.«
»Verwirrt? Weswegen?«
»Wegen allem. Was ich hier mache, wer ich bin. Ich dachte, ich wüsste … Ach, ich weiß noch nicht mal, wie ich es richtig erklären soll.« Das schien in letzter Zeit mein Problem zu sein. Ich hatte keinen
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