Die Elite
erfülle mit Freuden meine Pflicht, aber ich möchte das doch nicht für den
Rest meines Lebens
machen. Ich will mehr als das. Ich will einen Mann. Ich will …« Ihr Kummer übermannte sie mitten im Satz.
Es brach mir fast das Herz. Annes einziger Ausweg aus diesem Dasein war eine Heirat. Und es war nicht gerade so, dass Horden von Dreiern oder Vierern durch die Gänge des Palastes zogen und nach einer Zofe Ausschau hielten, die sie heiraten wollten. Sie war regelrecht gefangen hier.
Ich straffte die Schultern und betrat das Zimmer.
»Lady America«, sagte Mary und knickste. Anne tat es ihr nach. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie sich eilig die Tränen aus dem Gesicht wischte.
Ihr zuliebe ließ ich mir nichts anmerken und marschierte geradewegs an den beiden vorbei zum Spiegel.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Mary.
»Ich bin wirklich müde. Ich glaube, ich gehe sofort ins Bett«, sagte ich und konzentrierte mich auf die Nadeln in meinem Haar. »Wisst ihr was? Ihr könnt gehen und euch ausruhen. Ich komme auch allein zurecht.«
»Sind Sie sicher, Miss?«, fragte Anne und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
»Aber ja. Wir sehen uns morgen wieder.«
Zum Glück brauchten sie keine weitere Aufforderung. Mir war im Augenblick vermutlich genauso wenig wie ihnen daran gelegen, dass sie sich um mich kümmerten. Sobald ich mein Kleid ausgezogen hatte, legte ich mich ins Bett und dachte über Maxon nach.
Dabei ging mir immer wieder durch den Kopf, welch unglaubliches Glücksgefühl ich verspürt hatte, als ich erfuhr, dass er unversehrt und auf dem Heimweg war. Und insgeheim fragte ich mich, ob Maxon im Verlauf seiner Reise auch an mich gedacht hatte.
Stundenlang wälzte ich mich herum. Gegen ein Uhr morgens beschloss ich zu lesen, wenn ich schon nicht schlafen konnte. Ich knipste die Lampe an und zog Gregory Illeás Tagebuch hervor. Diesmal überblätterte ich die Einträge vom Herbst und suchte einen von Februar aus.
Manchmal muss ich fast lachen, wie einfach alles gewesen ist. Wenn es ein Buch darüber gäbe, wie man eine Regierung stürzt und sich ein Land untertan macht, dann wäre ich der Star in diesem Buch. Oder vielleicht sollte ich es gleich selbst schreiben. Ich bin nicht ganz sicher, was ich als Schritt eins definieren würde – weil man ja nicht wirklich ein anderes Land zu einer Invasion zwingen oder Idioten die Verantwortung übertragen kann. Doch ganz sicher würde ich jeden mit Führungsambitionen dazu ermuntern, sich mit allen Mitteln eine riesige Menge Geld zu beschaffen.
Allerdings würde Geld allein nicht ausreichen. Man muss es besitzen und zusätzlich in einer Position sein, andere herumkommandieren zu können. Mein fehlender politischer Hintergrund hat mich nicht daran gehindert, mir Loyalität zu sichern. Vielmehr würde ich sogar behaupten, die Tatsache, dass ich diesen Bereich komplett gemieden habe, ist vielleicht eine meiner größten Stärken. Keiner traut Politikern. Warum sollte man auch? Wallis hat jahrelang leere Versprechungen gemacht – in der Hoffnung, dass sich eine von ihnen erfüllen würde. Dabei ist das absolut ausgeschlossen. Ich hingegen biete den Menschen lediglich Perspektiven an. Keine Garantien, bloß eine vage Aussicht darauf, dass sich die Dinge bald ändern könnten. Dabei spielt es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mal eine Rolle, welcher Art die Veränderung sein könnte. Die Menschen sind so verzweifelt, dass ihnen das völlig egal ist. Mehr noch. Es fällt ihnen noch nicht einmal ein, danach zu fragen.
Vielleicht ist der Schlüssel zur Macht, ruhig zu bleiben, wenn andere in Panik geraten. Wallis ist mittlerweile so verhasst, dass er mir schon fast von selbst die Präsidentschaft übertragen hat. Und kein Mensch beklagt sich darüber. Ich sage nichts, tue nichts, und während um mich herum alles in Hysterie versinkt, lächle ich freundlich. Ein Blick auf den Feigling neben mir reicht aus, um zu wissen, dass ich am Rednerpult oder beim Händeschütteln mit einem Premierminister den besseren Eindruck mache. Und Wallis ist so erpicht darauf, jemanden an seiner Seite zu haben, den die Leute mögen, dass es ziemlich sicher nur zwei oder drei geschickt formulierter Abmachungen bedarf, bis ich über alles die Kontrolle besitze.
Dieses Land gehört mir. Es ist fast wie beim Schachspiel: Ich habe die richtigen Züge gewählt und werde das Spiel auf jeden Fall gewinnen. In den Augen dieses Landes, das mich aus nicht genau zu benennenden
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