Die Elvenbrücke
herauszufinden versucht, was sein toter Körper noch taugte. Wo seine vermoderten Kleider ihn nicht bedeckten, schimmerten grau die fleischlosen Knochen. Er versuchte sie zu verbergen, denn er kannte das Grauen, das die anderen bei seinem Anblick empfanden. Er fühlte es selbst irgendwo in den Resten seines lebenden Ichs.
Was er nicht verbergen konnte, waren die leeren Höhlen seiner Augen. Er hatte die toten Sinne herausgerissen. Er wußte nun, daß es ein anderer, ein magischer Sinn war, der ihn sehen und hören ließ. Er wußte auch, daß er an diesen abscheuerregenden Rest seines Körpers gekettet war – bis er ihn zerstörte, wie Ariwhan und Kayle es getan hatten.
Aber was war danach? Hörte er auf zu leben? War dann die Magie Zarathons zu Ende?
Die Mauer war so lange ein Grab für ihn gewesen, in dem sein Körper verrottete, daß er nun an diesem Scheinleben hing, als wäre es etwas Kostbares. Er war noch nicht bereit, herauszufinden, was danach mit ihm geschah.
Er war nicht immer ein Krieger gewesen. Er hatte an einem Hof gelebt und ein Weib besessen. Aber die meisten Erinnerungen waren mit seinem Gehirn zu Staub geworden.
»Ich bin Morwain… ich war es einst. Ihr seid die ersten Menschen seit einer Ewigkeit, denen ich begegne. Laßt mich ein Stück Weg mit euch ziehen. Der Geruch der Verwesung ist längst verflogen. Und ihr habt Fragen…«
Merryone konnte den Anblick des augenlosen Gesichtes nicht ertragen. Sie wandte sich voller Mitleid ab. Die Lorvaner rangen ihre abergläubische Furcht vor den Geistern der Toten nieder. Die Amazonen beobachteten die Gestalt mit kaltem Mißtrauen, Duzella tat es mit intensivem Interesse.
Thonensen nickte eifrig. »Ich bin sicher, daß ich für meine Gefährten spreche, wenn ich sage, daß unsere Neugier größer als unser Abscheu vor deinem toten Körper ist. Was das letztere betrifft, so glaube ich, kann ich uns allen helfen.«
Er löste ein Bündel von den Riemen seines Pferdes. Es enthielt die Priestergewandung, die er in stong-nil-lumen erbeutet hatte.
Morwain nahm sie dankbar. Der schwarze Mantel verhüllte sein Elend vom Hals bis zu den Füßen.
»Du wirst sie nicht mehr gebrauchen können«, sagte Morwain bedauernd.
»Wir werden sehen«, beschwichtigte der Magier. »Sie enthielten etwas, das mir mehr Schauder über den Rücken jagt als du.«
Die rote Maske bedeckte gnädig die dunkle Leere der Augenhöhlen und der knöcherne Helm den Schädel und das weiße Haar. Handschuhe bedeckten die bleichen Knochen der Finger.
Zum erstenmal war der verhaßte Anblick eines Dämonenpriesters erträglich.
Dennoch, trotz aller Sympathie, die Thonensen für den Fremden zu wecken verstand, blieb ein ununterdrückbares Grauen. Und die Pferde ließen ihn nicht zu nahe an sich heran. Sie schnaubten und rollten mit den Augen und bäumten sich auf.
»Ihr geht nach Süden?« stellte Morwain fest. »Fort von der Elvenbrücke?«
»Bis Sonnenaufgang«, erklärte Nottr kurz und fragte sich, ob nicht alles eine ausgeklügelte Falle sein ’mochte. »Dann werden wir weitersehen.«
Die Amazonen übernahmen die Flanken- und Rückendeckung außerhalb des Fackelscheins. Nottr sandte Baragg und Keir als Vorhut voraus. Er wies Lella an, an Duzellas und Merryones Seite zu bleiben, während er selbst es sich zur Aufgabe machte, diesen Morwain nicht aus den Augen zu lassen.
Aber er war nicht weniger neugierig als Thonensen. Er wollte wissen, welche Magie es war, die Morwain und die anderen aus ihrer Gruft geholt hatte. Konnte es eine Magie des Lichtes sein? Eine Weiße Magie, wie jene, derer sich die Alptraumritter bedienten?
Und:
»Wer ist Zarathon?« fragte Thonensen. »Ein Magier, ein Dämon, ein Priester?«
»Er ist der Beherrscher der Elvenbrücke. Alle Wesen, die hier existieren, beten zu ihm…«
»So ist er ein Gott?«
»Ich weiß es nicht…«
»Du hast ihn nie gesehen, bist ihm nie begegnet?«
»Nein.«
»Wie kam es, daß ihr seine Vasallen seid, und daß dieser Zauber mit euch geschieht?«
»Vor langer Zeit, als ich an den Wall kam, da stieß ich auf Ariwhan und seine Schar. Damals war noch Leben in unseren Körpern… wirkliches Leben.« Er schwieg einen langen Augenblick. Schließlich fuhr er fort: »Es ist so schwer, sich zu erinnern. Es gab so viele Träume in der langen Zeit danach… Ich weiß nicht mehr, was Traum ist und was wirklich geschah. Sie brachten mich auf einem geheimen Weg ins Innere der Elvenbrücke. Da waren viele Räume. In einem riefen sie
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