Die Enden der Parabel
Max-Schlepzig-Traumfilm geklebt, während Leni in ihrer möblierten Mülltonne im allerletzten Hinterhof schwanger zu Bett lag und sich herumwälzte, wenn die Rückenschmerzen unerträglich wurden. Es war schon Nacht und bitterkalt, als sein Leimkübel endlich leer und das letzte Plakat an der Mauer war, um bepißt, heruntergefetzt oder mit Hakenkreuzen beschmiert zu werden. (Der Film war vielleicht einer von der Sorte, die nur zur Erfüllung der Quote gedreht werden. Oder es war ein Druckfehler stehengeblieben. Jedenfalls fand Franz, als er an dem ausgedruckten Tag zum Kino kam, alles leer und dunkel vor, Mörtelbrocken bedeckten den Fußboden im Foyer, und aus dem Zuschauerraum drang ein furchtbares Krachen, als wäre eine Abbruchmannschaft am Werk, nur, daß er keine Stimmen hörte und alles stockfinster war... er rief, doch die Zerstörung ging unvermindert weiter, ein lautes Knirschen in den Eingeweiden hinter den Aushangkästen, die, wie er nun erst merkte, leer waren... ) Todmüde hatte es ihn kilometerweit nach Norden verschlagen, bis nach Reinickendorf, ein Viertel mit kleinen Fabriken unter rostenden Blechdächern, Bordellen, Lagerschuppen, Reparaturwerkstätten, vor denen das Wasser zum Kühlen der Werkstücke schaumbedeckt in den Tonnen stand, Ziegelgemäuern in Nacht und Bankrott. Fast nirgends Lichter. Verlassenheit, unkrautüberwucherte Parzellen, menschenleere Straßen: eine Gegend, in der in jeder Nacht Glas zerschellt. Es mußte der Wind gewesen sein, der ihn eine schmutzige Gasse hinunter und an der alten Kaserne vorbeitrieb, in der nun das Polizeirevier untergebracht war, zwischen Baracken und Werkzeugschuppen zu einem Drahtzaun mit einem Gatter darin. Er fand das Tor offen und zwängte sich hindurch. Irgendwo dort vorne hatte er ein Geräusch gehört. Vor dem Weltkrieg war er einmal mit seinen Eltern zur Sommerfrische in Schaffhausen gewesen. Sie waren mit der Elektrischen zu den Rheinfällen gefahren und über eine Treppe zu einem kleinen Holzpavillon mit einem spitzen Dach hinausgegangen - mitten zwischen die Wolken, Regenbogen und feurigen Tropfen. Und rundherum brüllte der Wasserfall. Er klammerte sich an die Hände von Mutti und Paps, schwebte mit ihnen in der kühlen Gischtwolke und konnte kaum bis zu den Bäumen hinaufsehen, die sich wie feuchtgrüne Kleckse an den Rand des Falls krallten, oder hinunter zu den kleinen Ausflugsbooten, die sich bis unmittelbar an die Stelle wagten, wo der Katarakt in den Rhein schlug. Doch hier, im winterlichen Reinickendorf, war er allein, waren seine Hände leer, als er über gefrorenen Schlamm in ein altes, von Birken und Weiden überwachsenes Munitionsdepot stolperte, das in der Dunkelheit zu einer Hügellandschaft wuchs und in einen Sumpf zusammensank. Betonbauten und Erdwälle von gut zehn Metern Höhe schoben sich zwischen ihn und das Geräusch, das immer lauter wurde und direkt aus seiner Erinnerung zu kommen schien, das Geräusch eines Wasserfalls: Solcher Art waren die Geister, die Franz heimsuchten, keine Personen, sondern Formen von Energie, Abstraktionen...
Dann sah er, durch eine Lücke in der Brustwehr, ein winziges, silbernes Ei, aus dem eine reine und stetige Flamme strömte und die Gestalten von Männern in Anzügen, Pullovern und Mänteln beleuchtete, die aus Unterständen und Splittergräben zusahen. Es war ein Raketenofen auf seinem Prüfstand: ein Brennversuch. Das Geräusch begann sich zu verändern, unregelmäßig zu werden. Für Franz, in seinem Staunen, klang es nicht bedrohlich, nur anders. Dann wurde die Flamme plötzlich heller, die Gestalten der Beobachter gerieten in Bewegung, krümmten sich nach ihren Schutzwällen, die Rakete heulte stotternd auf, ein gedehntes Bersten, Stimmengebrüll Deckung, und Franz warf sich zu Boden, genau in dem Augenblick, da es das silberne Ding auseinanderriß. Die Druckwelle peitschte über ihn hinweg, Metallsplitter jaulten, wo er eben noch gestanden hatte, Franz preßte sich mit klingelnden Ohren in den Dreck, fühlte die Kälte nicht und hätte kaum zu sagen gewußt, ob er noch in seinem Körper steckte ...
Schritte hasteten auf ihn zu. Er hob den Kopf und sah Kurt Mondaugen. Der Wind einer ganzen Nacht, vielleicht eines ganzen Jahres, hatte sie zusammengeführt. Daran würde er glauben: daß es der Wind gewesen war. Das pubertäre Fett des Schuljungen hatte sich in Muskeln verwandelt, das Haar war schütter geworden, die Hautfarbe dunkler als alles, was Franz diesen Winter auf den Straßen
Weitere Kostenlose Bücher