Die Enden der Parabel
durchdringt, ihn vollkommen ausfüllt, metallgrau, aber weich wie Latexschaum, und alles beginnt zu tanzen, erfüllt eine Choreographie, die längst schon da war, die aufblitzenden Knie unter den perlfarbenen Rocksäumen, als sich das Mädchen mit dem Kopftuch nach einem Pflasterstein bückt, der Mann im schwarzen Anzug mit dem braunen, ärmellosen Pullover, der von zwei Polizisten bei den Armen gepackt wird, den Kopf hochreckt, die Zähne bleckt, der ältliche Liberale im schmuddeligbeigen Regenmantel, der gerade einen Schritt zurückspringt, um einem taumelnden Demonstranten auszuweichen, Wiekönnen-Sieeswagen oder Dochnichtmich im über den Revers zurückgewandten Blick, das Weiß des Winterhimmels auf den Brillengläsern. Hier ist der Augenblick, mit seinen Möglichkeiten.
Sie hat sogar, mit dem bißchen, was sie von der Analysis aufgeschnappt hatte, versucht, es Franz als das ?t zu erklären, das gegen die Null strebt, diese ewige Annäherung, bei der die Scheiben der Zeit immer dünner und dünner werden, eine Flucht von Zimmern, deren Wände von Mal zu Mal silbriger, durchscheinender wirken, während das reine Licht der Null immer näher kommt...
Er schüttelte bloß den Kopf: "Das ist etwas anderes, Leni. Hier kommt es nur darauf an, eine Funktion bis zu ihrem Grenzwert aufzulösen. ?t ist nur ein Hilfsmittel, eine Konvention, um das zu erreichen."
Er hat, er hatte, diese Art, den Dingen mit ein paar Worten alles Erregende zu nehmen. Nicht einmal mit Absicht: er tut es ganz unwillkürlich. Wenn sie ins Kino gingen, schlief er meistens ein. Auch in den Nibelungen. Er verschlief Etzel, den Hunnenkönig, wie er von Osten heranstürmte und die Burgunden ausradierte. Franz liebte Filme, aber das war seine Art, sie sich anzusehen: abwechselnd einnickend und aufschreckend. "Du bist doch der Ursacheund-Wirkung-Mann", schrie sie. Wie verknüpfte er nur die Fragmente, die er sah, wenn er die Augen offen hatte? Ja, er war der Ursacheund-Wirkung-Mann: Gnadenlos machte er sich über ihre Astrologie lustig, erläuterte ihr erst, was sie glauben sollte, und stieß dann alles wieder um. "Die Gezeiten, Radiowellen vielleicht, sonst kaum etwas. Ereignisse dort draußen haben keine Möglichkeit, bei uns hier Wirkungen hervorzurufen." "Nicht ", versuchte sie, "keine Ursachen. Es läuft alles zusammen ab, gleichzeitig. Parallel, nicht seriell. Metaphern. Zeichen und Symptome. Projiziert auf verschiedene Koordinatensysteme, ach, ich weiß auch nicht..." Sie wußte es wirklich nicht, versuchte nur, die Hände danach auszustrecken.
Er aber antwortete: "Bau ruhig mal eine Maschine nach deinem Prinzip, und sieh zu, ob sie funktioniert."
Sie gingen in Die Frau im Mond. Franz amüsierte sich, von oben herab. Er lachte über technische Einzelheiten. Er kannte einige der Leute, die an den Tricks gearbeitet hatten. Leni sah einen Traum vom Fliegen, einen von vielen möglichen. Der wirkliche Flug und die Träume vom Fliegen gehören zusammen. Beide sind Teil derselben Bewegung. Nicht A vor B, sondern alles zugleich... Hätte wohl irgend etwas, das sie mit ihm erlebte, jemals Bestand gehabt? Vielleicht wäre Franz, wenn der jüdische Wolf Pflaumbaum seine Farbenfabrik am Kanal nicht angesteckt hätte, bis ans Ende ihrer Tage mit dem unmöglichen Projekt des Juden beschäftigt gewesen, der Entwicklung von in sich gemusterter Farbe: hätte ein geduldiges Kristall nach dem anderen gelöst, zwanghaft pedantisch die Temperaturen überwacht und jedesmal von neuem gehofft, daß sich der amorphe Brei beim Abkühlen plötzlich zerteilen würde, in Streifen auseinanderfiele, zu PolkaTupfen, Schottenkaro, Davidssternen - statt eines Morgens einen rußigen Trümmerhaufen vorzufinden, Farbkanister, die in gewaltigen Eruptionen von Scharlach und Flaschengrün explodiert waren, Gerüche nach versengtem Holz und Naphthalin und einen Pflaumbaum, der seine Hände rang, oy, oy, oy, der kriecherische Heuchler. Alles für die Versicherung.
So waren Franz und Leni eine Zeitlang ziemlich hungrig, während Ilse in Lenis Bauch jeden Tag ein Stück größer wurde. Die Arbeiten, die ihm angeboten wurden, waren von der bescheidensten Art und so schlecht bezahlt, daß er sie besser vergessen hätte. Es machte ihn fix und fertig. Dann traf er, eines Abends, draußen in den morastigen Vorstädten, seinen alten Freund von der TH in München. Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen, der proletarische Gatte, und hatte Plakate für irgendeinen fröhlichen
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