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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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gesehen hatte, dunkel selbst hier im Schatten des Betons, dem Flackern des auslaufenden Raketenbrennstoffs, aber Mondaugen war's, das stand fest: sieben oder acht Jahre waren vergangen, aber sie erkannten einander sofort. Sie hatten damals in derselben zugigen Mansarde über der Münchner Liebigstraße gewohnt. (Franz hatte diese Adresse immer als ein gutes Omen betrachtet, denn Justus von Liebig war einer seiner erklärten Helden, ein Held der Chemie. Später, wie zur Bestätigung, machte er seinen Schein in Polymertheorie bei Laszlo Jamf, dem Doktor-Professor, der der jüngste in der wahren Erbfolge war, der Linie, die von Liebig über August Wilhelm von Hofmann und Herbert Ganister bis zu Jamf führte wie eine ununterbrochene Kette von Ursache und Wirkung.) Morgens waren sie zusammen im gleichen, rüttelnden Trambahnwagen mit drei Stromabnehmern, die zart wie Insektenbeine an den Drähten der Oberleitung entlangquietschten, zur TH gefahren. Mondaugen studierte Elektrotechnik. Gleich nach dem Diplom ging er dann nach Südwestafrika, mit irgendeinem funktechnischen Forschungsprojekt. Eine Weile hatten sie einander noch geschrieben, dann war auch das vorbei gewesen. Ihre Wiedersehensfeier in einer Bierkneipe in Reinickendorf dauerte bis spät in die Nacht, Studentengrölen unter Arbeitertrinkern, eine grandiose, überschäumende Obduktion des Raketenexperiments, die Kurt und die anderen auf durchweichte Papierservietten kritzelten oder durch Rauch und Lärm über den mit Gläsern bedeckten Tisch brüllten, Diskussionen über Hitzestau, erreichten Schub und Brennstoffdurchsatz ...
    "Es war ein Fehlschlag", sinnierte Franz unter der nackten Glühbirne um drei oder vier Uhr am Morgen, ein nicht zu deutendes Grinsen in seinem Gesicht, "es ist schiefgegangen, Leni, aber sie reden nur von Erfolg! Zwanzig Kilogramm Schub, und auch das nur für ein paar Sekunden, aber noch keiner hat es vor ihnen geschafft. Ich konnte es einfach nicht glauben, Leni, ich sah etwas, das noch nie jemand vorher geschafft hat... "
    Sie dachte, er wolle ihr vorwerfen, ihn in die Depression zu treiben. Dabei wollte sie nichts anderes, als daß er endlich erwachsen würde. Was für eine WandervogelIdiotie war das nun wieder, die ganze Nacht in einem Sumpf herumzustolpern und sich "Verein für Raumschiffahrt" zu nennen?
    Leni war in Lübeck aufgewachsen, in einer Zeile von kleinbürgerlichen Häusern am Ufer der Trave. Feingliedrige Bäume standen in regelmäßigen Abständen an der Uferseite der kopfsteingepflasterten Straße und wölbten ihre langen Äste über das Wasser. Aus dem Fenster ihres Schlafzimmers konnte sie die beiden spitzen Turmhelme des Domes sehen, die über die Dächer aufragten. Ihre stinkende Hinterhofexistenz hier in Berlin war nur ein Aufenthalt in einer Druckschleuse - mußte es sein. Ihre Art, sich aus der würgenden Geschäftigkeit dieses Biedermeier zu befreien, ihr Wechsel auf die Zukunft, nach der Revolution.
    Im Scherz nannte Franz sie oft "Lenin". Es gab nie einen Zweifel, wer von ihnen der aktive, wer der passive Teil war -aber sie hatte immer gehofft, daß er sich noch entwickeln würde. Sie hat mit Psychologen gesprochen, weiß alles über den pubertierenden deutschen Jüngling, wie er auf Matten und Bergwiesen liegt, in den Himmel hineinstarrt, onaniert und sich sehnt. Und das Schicksal wartet bereits, ein dunkles Verhängnis, verborgen im Hauch dieses Sommerwinds. Das Schicksal wird dich betrügen, wird deine Ideale zerstören, wird dich der gleichen, abscheulichen Bürgerlichkeit ausliefern wie deinen Vater, der beim Sonntagsspaziergang nach der Kirche sein Pfeifchen die Straße am Fluß entlangschmaucht: es wird dich in die graue Uniform eines von vielen Familienvätern stecken, und ohne mit der Wimper zu zucken wirst du deine Zeit abdienen, wirst vor dem Schmerz in die Pflicht, vor der Freude in die Arbeit, vor dem Engagement in die Neutralität flüchten. Das Schicksal ist's, das dir das antut.
    Franz liebte sie auf eine neurotische, masochistische Weise. Er gehörte ihr ganz, und er glaubte, sie könnte ihn auf ihrem Rücken huckepack tragen, weit weg an einen Ort, wo das Schicksal ihn nicht einholen würde. Als ob es die Schwerkraft wäre. Einmal bei Nacht, im Halbschlaf, hatte er sein Gesicht in ihre Achselhöhle gepreßt und gestammelt: "Deine Flügel ... ach, Leni, deine Flügel..." Doch ihre Flügel können gerade ihr eigenes Gewicht schleppen, dazu noch Ilses, hofft sie, für eine Weile. Franz ist toter

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