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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Ballast. Soll er doch draußen, auf dem Raketenflugplatz, wo er sich vom Militär, von den Kartellen benutzen läßt, nach seinem Flug Ausschau halten. Soll er doch zum toten Mond fliegen, wenn ihm danach ist...
    Ilse ist wach, sie weint. Den ganzen Tag hat sie nichts bekommen. Sie sollten es wohl doch bei Peter versuchen. Er wird Milch haben. Rebekka hält ihr den Rest ihrer Brotrinde hin. "Ob sie das mag?"
    Eigentlich nicht viel Jüdisches an ihr. Warum sind die Hälfte aller Linken, die sie kennt, Juden? Sofort entsinnt sie sich, daß Marx einer war. Eine rassische Affinität zu Büchern, zum theoretischen Denken, rabbinische Liebe zum Streitgespräch ... Sie gibt ihrem Kind die Brotrinde, nimmt es auf.
    "Wenn er mich hier sucht, sagt ihm, ich war nicht da." Als sie bei Peter Sachsa ankommen, ist es längst Nacht. Man scheint gerade mit einer Seance beginnen zu wollen. Sofort wird sie sich ihres schäbigen Mantels bewußt, ihres Baumwollkleides (der Saum viel zu hoch), ihrer abgetretenen, stadtstaubigen Schuhe, auch Schmuck hat sie keinen. Immer wieder Kleinbürgerreflexe ... letzte Reste, hoffentlich. Aber die meisten Frauen sind alt hier. Und die übrigen einfach zu blendend. Hmm. Die Männer sehen saturiert aus, mehr als sonst. Hier und da erspäht Leni silberne Hakenkreuze an den Rockaufschlägen. Die Weine auf den Tischen sind die großen 20er und 21er, Schloß Vollrads, Zeltinger, Piesporter: ein großer Anlaß, anscheinend.
    Ziel dieser Nacht ist es, Verbindung mit dem ehemaligen Außenminister Walther Rathenau aufzunehmen. Im Gymnasium sang Leni mit den anderen Kindern den netten antisemitischen Gassenhauer jener Zeit:
    Knallt ab den Juden Rathenau, Die gottverdammte Judensau ...
    Nachdem er wirklich ermordet worden war, sang sie wochenlang nichts mehr: Sie war ganz sicher, daß die Singerei, wenn sie das Ganze nicht überhaupt herbeigeführt hatte, so doch mindestens eine Prophezeiung gewesen war, eine Art böser Zauber...
    Heute nacht sind ganz spezielle Botschaften zu übermitteln. Fragen an den früheren Minister. Kaum spürbar, ist eine Auslese im Gange, aus Gründen der Geheimhaltung. Nur ausgewählte Gäste finden ihren Weg in Peters Salon. Die Übergangenen bleiben draußen, tuscheln, zwingen sich zu einem angespannten Lächeln, gestikulieren ... Den Skandal der Woche bei der I. G. Farben liefert diesmal die unselige Spottbilligfilm AG, eine Tochterfirma, deren Management komplett gefeuert werden soll, weil es dem Rüstungsamt der Reichswehr die Entwicklung einer neuen Strahlenwaffe für Flugzeuge vorgeschlagen hat, die die gesamte Bevölkerung in einem Umkreis von zehn
    Kilometern total erblinden lassen kann. Der Revisionsabteilung der I. G. gelang es gerade noch, den Plan zurückzuhalten. Arme Spottbilligfilm! Keiner bei der Firma hatte überlegt, was der Einsatz dieser Waffe für das Farbengeschäft nach dem nächsten Krieg bedeuten würde. Die Götterdämmerungsmentalität mal wieder. Die Waffe war unter der Chiffre L-5227 registriert, L stand für Licht, noch so ein komischer deutscher Euphemismus, genau wie die I. G. selber, diese Interessengemeinschaft... und was hört man Neues von dem Kontaktvergiftungsfall in Prag? Stimmt es, daß die VI-b-Gruppenchefs der "Chemiedienste Im Abnormen" sofort mit Sondervollmacht ausgestattet und nach Osten geflogen wurden? Daß es sich um eine äußerst komplexe Vergiftung handelt, Selenium und Tellur zugleich... die Namen der Giftstoffe ernüchtern die Konversation, so als spräche man von Krebs...
    Die Elite, die zur heutigen Seance zugelassen ist, kommt aus der korporativen NaziHorde, keinen Geringeren als Generaldirektor Smaragd erkennt Leni darunter, von einer I. G.-Firma, die sich einmal für ihren Mann interessiert hatte. Bis die Kontakte plötzlich abgerissen waren. Es wäre mysteriös gewesen, beinahe etwas unheimlich, hätte man zu dieser Zeit nicht alles auf die Wirtschaftslage schieben können ... Über die Menge hinweg begegnet sie Peters Blick. "Ich hab ihn verlassen", flüstert sie nickend, als er ihre Hand schüttelt.
    "Du kannst Ilse in einem der Schlafzimmer zu Bett bringen. Können wir später miteinander reden?" Ausgesprochen faunisch wirkt das Blinzeln seiner Augen heute nacht. Wird er es akzeptieren, daß sie so wenig ihm gehört wie früher Franz? "Ja, natürlich. Was ist denn los hier?"
    Er schnaubt verächtlich, was soviel heißt wie: Sie haben's mir nicht erzählt. Sie benutzen ihn - haben ihn immer benutzt, verschiedene "sies",

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