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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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wahr?

 [1.21 ] Roger und Jessica

    In ihrem Glas formen die beiden Goldfische ein Pisces-Zeichen, des einen Kopf beim Schwanz des anderen, unbeweglich. Penelope sitzt davor und späht in die Wasserwelt. Da sind eine kleine, versunkene Galeone, ein Taucher aus Porzellan mit einem Taucheranzug, hübsche Kiesel und Muscheln, die sie und ihre Schwestern an der See gesammelt haben.
    Tante Jessica und Onkel Roger sind draußen in der Küche, halten einander umarmt, küssen sich. In der Diele piesackt Elizabeth die kleine Claire. Ihre Mutter ist auf dem Klo. Sooty, die Katze, schläft in einem Sessel, eine schwarze Gewitterwolke unterwegs nach woanders, die im Augenblick zufällig so aussieht wie eine Katze. Es ist der zweite Weihnachtstag. Der Abend ist sehr ruhig. Der letzte Raketeneinschlag war vor einer Stunde, irgendwo im Süden. Claire hat eine Negerpuppe bekommen, Penelope einen Pullover, Elizabeth ein Kleid, in das Penelope später mal reinwachsen wird.
    Heute nachmittag hat Roger sie alle zu einer Weihnachtsaufführung mitgenommen. Das Stück hieß Hänsel und Gretel.
    Claire hat sich sofort unter die Sitze verzogen, wo schon andere Kinder auf geheimnisvollen Pfaden durch den Saal krochen, Spitzen und weiße Kragen, die zwischen den großen, aufmerksamen Onkels in Uniform, den mäntelbehangenen Stuhllehnen blitzten. Auf der Bühne kauerte sich Hansel, von dem man glauben sollte, er sei ein Junge, der aber in Wirklichkeit ein großes Mädchen in Strumpfhosen mit einem Kittel drüber war, im Käfig zusammen. Die komische alte Hexe hatte Schaum vor dem Mund, als sie auf die Bühne kletterte. Und die süße Gretel wartete neben dem Ofen auf ihre Chance ...
    Dann schmissen die Deutschen eine Rakete nur ein paar Häuser weiter neben das Theater. Einige von den kleinen Kindern begannen zu heulen. Sie hatten Angst. Gretel, die gerade mit dem Besenstiel ausholte, um ihn der Hexe auf den Hintern zu hauen, hielt inne. Sie legte den Besen weg, trat im Schweigen des Publikums an die erleuchtete Rampe und sang:
    Oh, laßt euch nicht holen, Es kommt, wenn sie's wollen,
    Doch da ist etwas, was ihr nicht seht:
    Es ist groß und garstig und ist euch ganz nah,
    Es wetzt seine Krallen und will euch ans Haar!
    Der Gemüsemann sieht einen Regenbogen,
    Der Tonnenmann hat sich am Schlips gezogen,
    Und alles stimmt ein, in den alten Refrain
    Mit 'nem Dropsgesicht hoch am Himmel drohoben!
    "Singt alle mit!" strahlte sie und brachte das Publikum, sogar Roger, tatsächlich dazu, mitzusingen:
    Mit 'nem Dropsgesicht hoch am Himmel drohoben, Und 'nem alten Traum mit nicht mehr viel dran, Kommt das Tortenstück schon auf euch zugeflogen, Und unser Stück fängt auch gleich an! Oh, der Tommy schläft heute nacht draußen im Schnee, Und die Jerries, die lernen das Fliegen, Und wir fliegen zum Mond, der am Himmel hoch thront, In dem Plastikhaus, das wir bestiegen ... Ein Haus aus Plastik am Himmel droben, Nadeln aus Platin in deiner Hand Deine Mutter ein fettes Maschinengewehr, Dein Vater ein todlangweiliger Fant...
    (Geflüstert und staccato):
    Ja, der Manager lutscht an der Maiskolbenpfeife, Und die Banker, die fressen ihre Fraun, Verwirrt ist die Welt, das Orchester gellt, Hast du Lust, in deine Taschen zu schaun? Ja, dreh die Taschen um, schau, ob was rausfällt Sieh mal an, es war gar keiner da! Die Lichter im Festsaal verglimmen Nach dem Tanz vom vergangenen Jahr... Am Strand irgendwo flüstern Palmen, Der Lebensretter wird nichts mehr erben, Und die Stimmen hinter dir, Boy and Girl of the Year, Gehören Kindern, die lernen, zu sterben ...
    Der Lehnstuhl von Penelopes Vater, dort in der Ecke, neben dem Tisch mit der Lampe, ist leer. Er steht jetzt genau vor ihr. Sie kann den gehäkelten Schal über der Lehne, die vielen grauen, gelblichen, schwarzen und braunen Maschen, mit erstaunlicher Deutlichkeit sehen. Im Häkelmuster, oder dicht davor, bewegt sich etwas: erst scheint es nur eine Lichtbrechung zu sein, so als befände sich eine Wärmequelle unmittelbar vor dem leeren Stuhl.
    "Nein", flüstert sie laut. "Ich will das nicht! Du bist nicht er. Ich weiß nicht, wer du bist,
    aber du bist nicht mein Vater. Geh fort!"
    Die Arme und Beine bleiben still und unbeweglich. Sie starrt hin.
    Ich wollte dich nur besuchen.
    "Du willst mich besitzen."
    Dämonische Besessenheit ist in diesem Haus nichts Unbekanntes. Ist das wirklich Keith, ihr Vater? der ihr genommen wurde, als sie halb so alt war wie jetzt, und nun
    zurückkehrt, nicht als der Mensch,

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