Die Enden der Parabel
Machen SIE niemals Fehler, oder ... warum stürmt er hier - geradeso, wie Eventyr mitgesogen wird in Noras wütendem Kielwasser - mit ihr ihrem eigenen Ende entgegen, sein Gesichtsfeld ausgefüllt, versperrt von dem Körper vor ihm, dem schlanken Mädchen, das plötzlich so seltsam breit ist, so mütterlich und baumhaft, wie eine Eiche ... nur Bruchstücke ihrer Zeit, Schutt sieht er von den Seiten auf sich eindringen, hinter sich zusammenschlagen, in langen, spiralenden Strudeln zurückbleiben und in staubige Unsichtbarkeit versinken, wo der letzte Schimmer Sonnenlicht auf das Straßenpflaster fällt... Ja, so lächerlich es auch klingt, es ist die Wunschphantasie von Franz Pökler, die er hier stellvertretend lebt, an ihren Rücken gekauert, klein, winzig und genommen werdend: hinein in einen Ätherwind, dessen Geruch ... nein, nicht diesen Geruch, den er zum letztenmal kurz vor der Geburt gerochen hat ... in der Leere vor dem Nullpunkt der Erinnerung ... was bedeutet, wenn er ihn hier wiederfindet, daß ...daß...
Sie werden von einem Polizeikordon abgedrängt. Peter Sachsa steckt mittendrin, versucht, auf den Beinen zu bleiben, ein Entkommen ist unmöglich ... Lenis Gesicht in unruhiger Bewegung hinter dem Fenster im Fliegenden Hamburger, die Betonstraßen, Pfeiler, Fabriktürme der Mark, die mit über hundertsechzig Stundenkilometern vorbeirasen, ein perfekter Hintergrund, braun, verwischt, nur ein winziger Fehler, eine defekte Weiche, ein Stein auf den Schienen bei dieser Geschwindigkeit, und es ist aus mit ihnen... ihr Rock ist über den Rücken geworfen, die nackten Unterseiten ihrer Oberschenkel, rot gestriemt vom Sitz, sind ihm zugekehrt... ja... im Angesicht der Katastrophe, ja, egal, wer zuschaut, ja ... "Leni, wo bist du?" Noch vor zehn Sekunden war sie an seiner Seite. Es war beschlossen, daß sie versuchen würden, zusammenzubleiben. Aber es gibt zwei Bewegungsrichtungen hier draußen: Sooft der Zufallstausch der Positionen diesseits der Kampflinie zur Macht Fremde zusammenführt, die dann ihre Zeit zusammenbleiben und mit ihrer Liebe selbst die Unterdrückung als vergeben erscheinen lassen, so leicht wird Liebe hier auf der Straße auch zentrifugal zerrissen -ein Gesicht zum letztenmal gesehen, ein Wort, beiläufig über die Schulter gesprochen, gewiß, daß sie noch da sei, zum Abschiedswort: "Wird Walter heute abend Wein mitbringen? Ich hab vergessen -" sie ist zu einem Witz unter Freunden geworden, seine Zerstreutheit, sein Schlafwandeln in spätpubertärer Verstörung, da er inzwischen auch noch hoffnungslos in das kleine Mädchen verliebt ist, in Ilse. Sie ist seine Zuflucht vor der Gesellschaft, vor Parties und Klienten - oft ist sie seine geistige Rettung. Er hat sich angewöhnt, jeden Abend, spät in der Nacht, eine Zeitlang neben ihrem Bett zu sitzen und ihren Schlaf zu beobachten, den kleinen Hintern in der Luft, das Gesichtchen im Kissen vergraben... die Reinheit ... die Richtigkeit, die es hat ... Aber ihre Mutter knirscht im Schlaf mit den Zähnen, zieht die Stirn in Falten, spricht in einer Sprache, von der er nicht zugeben will, daß er selbst sie irgendwo und irgendwann einmal fließend sprechen könnte. Gerade jetzt, in der vergangenen Woche ... er versteht nicht viel von Politik, aber er erkennt, daß sie eine Schwelle überschritten, einen Scheideweg der Zeit gefunden hat, auf dem er ihr vielleicht nicht folgen kann -
"Du bist ihre Mutter... was ist, wenn sie dich festnehmen, was wird aus ihr?" "Das ist es doch genau, was sie - Peter, kapierst du das denn nicht, sie wollen eine fette, aufgeschwollene Titte mit irgendeinem kümmerlichen Anhängsel als Menschenalibi daran, das irgendwo im Tittenschatten rumblökt. Wie kann ich Mensch für Ilse sein? Nicht Mutter? ist eine Kategorie des Zivildienstes, Mütter arbeiten für SIE! Sie sind die Polizisten der Seele... " Ihr Gesicht ist dunkel geworden, judaisiert von ihren Worten, aber nicht, weil sie es laut ausspricht, sondern weil es ihr ernst ist damit, und sie hat recht. Gegen ihren Glauben erkennt Sachsa die Seichtheit seines eigenen Lebens, die Badewannen-Stagnation dieser Soireen, bei denen sich seit Jahren nicht einmal die Gesichter verändert haben ... zu viele laue Jahre ...
"Aber ich liebe dich..." sie streicht ihm das Haar aus der verschwitzten Stirn. Sie liegen unter einem Fenster, durch welches Licht von Autos und Reklamen spritzt, rhythmisch an ihrer Haut, ihren Hügeln und Schatten leckt, in Spektren, die kälter sind
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