Die Enden der Parabel
aller Doppelagenten, den jedermann in Stockholm - oder war es Paraguay? -vermutet hatte.
"Wissen Sie", sein Makrelengesicht tastet Eventyr ab, quick wie die Tellerantenne eines Feuerleitgeräts und sogar noch gnadenloser, "ich dachte einfach -" Sie dachten, Sie wollten einfach mal vorbeischauen."
"Telepathie also auch noch, mein Gott, Ihre Talente sind erstaunlich." Aber die Fischaugen lassen nicht los. Das Zimmer ist karg möbliert, die Deckadresse Gallaho Mews dient meist nur finanziellen Transaktionen. Man hat Eventyr von der "Weißen Visitation" hierherbeordert. Auch in London versteht man Drudenfüße zu zeichnen, Beschwörungen zu murmeln und genau diejenigen herbeizuschaffen, die man braucht... Die Tischplatte ist voll von verschmierten, weißlich belegten, geleerten oder mit den Resten tiefbrauner oder roter Drinks gefüllten Gläsern, von Aschenbechern und den Überbleibseln der künstlichen Blumen, die der alte Sammy entblättert, aufgedröselt und zu mysteriösen Schlingen und Knoten verflochten hat. Rauch von der Bahnlinie zieht durch ein angelehntes Fenster herein. Eine der kahlen Zimmerwände ist fleckig, im Lauf der Jahre erodiert von den Schatten der Agenten, ähnlich wie manche Spiegel in Wirtshaussälen von den Reflexionen der Gäste: eine Oberfläche, die Charakter annimmt, wie ein altes Gesicht...
"Also sprechen Sie gar nicht wirklich mit ihm", ja, das ist Sammys Stärke, ganz auf die sanfte Tour, "nicht wie mit so einem Telephonfräulein in der Nacht, das ein Schwätzchen halten will..."
"Aber nein." Eventyr begreift, daß sie Abschriften von allem haben, was durch Sachsa hereinkommt - daß die Niederschriften, die man ihm selbst zu lesen gibt, bereits zensiert sind. Und möglicherweise schon seit geraumer Zeit ... Also ganz ruhig jetzt, passiv bleiben, ruhig auf den Umriß warten, der sich aus Sammys Gerede herausschälen wird und den er schon erahnen kann, wie bei der Ausarbeitung eines Akrostichons: Man hat ihn nach London gerufen, aber man bittet ihn nicht, einen Kontakt herzustellen, also muß es Sachsa selbst sein, an dem sie diesmal interessiert sind, und der Zweck dieses Treffens ist nicht, Eventyr etwas aufzutragen, sondern ihn zu warnen. Einen Teil seines ihm selbst verborgenen Innenlebens zum Tabu zu erklären. Bruchstücke, Tonfälle, Kleinigkeiten in der Wortwahl schießen zusammen: "... ein ziemlicher Schock für ihn gewesen sein, sich drüben wiederzufinden ... selbst einen Ssaxa oder zwei in meinem Leben, der mir Sorgen... Sie mir wenigstens von der Straße wegbleiben ... abwarten, wie Sie sich halten, der alte Ssaxa natürlich auch, wir brauchen Zeit, um die Persönlichkeiten aus den Daten herauszufiltern, ist einfacher für uns auf diesem Weg..."
Von der Straße wegbleiben? Jeder weiß, wie Sachsa gestorben ist. Aber keiner weiß, warum er zu diesem Zeitpunkt an dieser Stelle war - was dazu geführt hat. Und Sammy will Eventyr hier nichts anderes sagen als: Frag nicht. Aber werden sie dann nicht auch versuchen, sich an Nora heranzumachen? Wenn es hier Analogien gibt, wenn Eventyr, irgendwie, mit Peter Sachsa kurzgeschlossen ist, wird dann auch Nora Dodson-Truck zu der Frau, die Sachsa liebte: Leni Pökler? Werden dann auch Noras rauchige Stimme, ihre sicheren Hände unter das Tabu fallen? Wird man Eventyr für eine lange Zeit, vielleicht den Rest seines Lebens, unter eine ziemlich ausgefallene Art von Hausarrest stellen, für Vergehen, die man ihm nicht offenbaren wird?
Nora führt ihr Abenteuer, ihre "Ideologie der Null", immer noch weiter, entschlossen und unverzagt zwischen den versteinerten Haaren der letzten weißen Wächter an der letzten Schwelle vor dem Schwarzen, Strahlenden... Doch wo mag Leni jetzt sein? Wohin mag sie, mit ihrem Kind auf dem Arm und ihren Träumen, die sich nicht auswachsen wollen, abgewandert sein? Entweder wollten wir sie nicht verlieren, haben nur für einen Augenblick nicht aufgepaßt und unsere Sorge, von der manche schwören würden, es sei Liebe, vernachlässigt - oder es hat sie jemand aus Gründen, die geheimgehalten werden, mit Absicht unserem Blick entzogen, und auch Sachsas Tod steht damit in Verbindung. Sie hat, mit ihren Flügelschlägen, ein anderes Leben ausgelöscht, nicht das ihres Mannes Franz, der davon träumte und sich danach sehnte, auf diese Art genommen zu werden, und der statt dessen für etwas ganz anderes bewahrt bleibt, sondern Peter Sachsas, der auf andere Weise passiv war ... handelt es sich um eine Verwechslung?
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