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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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genug bezahlt? Alles habe ich für sie riskiert, jedesmal von neuem ... Warum müssen sie einen alten Mann quälen? Im sechsten Raum baumelt von oben ein zerfetzter Tommy Atkins auf dem White Sheet Ridge, die Felduniform verbrannt von Maxim-Einschüssen, die schwarz umrandet sind wie die Augen der Cleo de Merode, sein eigenes linkes Auge aber ausgeschossen, ein Leichnam, der schon zu stinken - Nein ... nein ... ein Mantel, irgendein alter Mantel, sonst nichts, der an einem Mauerhaken hängt ... aber hat er es nicht gerochen? Gelbkreuz strömt ein, überschwemmt sein Gehirn mit tödlichem Zischen, wie es Träume tun, die wir abwehren wollen, oder wenn wir keine Luft kriegen. Ein Maschinengewehr auf der deutschen Seite singt dum diddy da da, eine englische Waffe antwortet dum dum, und die Nacht schlingt sich immer enger um seinen Körper, so kurz vor der Zeit X ... An der siebenten Zelle, seine Knöchel kraftlos vor dem
    dunklen Eichenholz, klopft er gegen die Tür. Der Riegel, elektrisch ausgelöst, schnellt auf einer kurzen Echospur zurück. Er tritt ein und schließt die Tür hinter sich. Die Zelle liegt im Halbdunkel, nur eine einzelne Duftkerze brennt in einer Ecke, die Meilen entfernt scheint. Sie erwartet ihn in einem hohen Adam-Stuhl, ein weißer Leib in der schwarzen Uniform der Nacht. Er sinkt auf die Knie.
    "Domina Nocturna... leuchtende Mutter und letzte Liebe... dein Diener Ernest Pudding meldet sich wie befohlen."
    In diesen Kriegsjahren ist der Brennpunkt im Gesicht einer Frau ihr Mund. Lippenstift gehört zu diesen harten, oft oberflächlichen Mädchen wie das Blut in ihren Adern. Die Augen hat man dem Wetter und den Tränen überlassen: in einer Zeit, da soviel Tod im Himmel verborgen ist oder unter dem Meeresspiegel oder zwischen den Bläschen und Flecken der Luftaufnahmen, haben die Augen der meisten Frauen nur Funktionen zu erfüllen. Doch Pudding stammt aus einer anderen Epoche, und auch dieses Detail hat Pointsman berücksichtigt. Die Dame des Brigadiers hat eine Stunde vor ihrem Schönheitsspiegel mit Maskara, Eyeliner, Lidschatten und Stiften, Lotionen und Rouges, mit Bürsten und Pinzetten zugebracht und dabei immer wieder ein Loseblattalbum mit Photographien der führenden Schönheiten von vor dreißig, vierzig Jahren konsultiert, auf daß ihre Herrschaft in diesen Nächten authentisch, wenn nicht sogar -und das ist sie jedenfalls für sie und ihn - legitimiert sei. Ihr blondes Haar ist hochgesteckt und unter einer dichten, schwarzen Perücke verborgen, die ihr über die Schultern und bis unter die Brüste hinabfällt, wenn sie den Kopf senkt, ihre königliche Haltung vergißt. Bis auf einen langen Zobelumhang und schwarze Stiefel mit hohen Absätzen ist sie jetzt nackt. Ihr einziger Schmuck besteht in einem silbernen Ring mit einem künstlichen Rubin, der nicht zu Facetten geschliffen ist, sondern noch die ursprüngliche Boule-Form besitzt, ein arroganter Blutstropfen, vorgereckt jetzt, seinen Kuß erwartend. Sein gestutzter Schnurrbart streift zitternd über ihre Finger. Sie hat ihre Nägel zu langen Spitzen gefeilt und im Rot ihres Rubins lackiert. Ihres gemeinsamen Rubins. Im schwachen Kerzenlicht wirken die Nägel fast schwarz. "Genug jetzt. Mach dich fertig!"
    Sie beobachtet ihn beim Ausziehen, seine Orden klingeln leise, das gestärkte Hemd knistert. Sie sehnt sich verzweifelt nach einer Zigarette, aber die Instruktionen verbieten ihr, zu rauchen. Sie versucht, die Hände ruhig zu halten. "Woran denkst du, Pudding?" "An die Nacht, da wir uns zum erstenmal begegneten." Der Schlamm stank. Die Archies knatterten in die Dunkelheit. Seine Männer, seine armen Schafe, hatten Gas abbekommen diesen Morgen. Er war allein. Durch das Scherenfernrohr sah er sie, im Licht einer Leuchtgranate, die am Himmel hing... und obgleich er in Deckung lag, sah sie auch ihn. Ihr Gesicht war bleich, ihre Kleidung schwarz, sie stand im Niemandsland, die Maschinengewehre zogen ihre Spuren um sie herum, aber sie bedurfte keines Schutzes. "Sie kannten dich, Herrin. Sie waren deine Geschöpfe." "Genau wie du." "Du riefest mich, du sagtest:
    Er kniet wieder vor ihr, nackt wie ein Säugling. Gegen das Licht der Kerze rauht sich
    sein Altmännerfleisch zu einer Gänsehaut. Alte Narben und frische Striemen
    zeichnen seinen Körper. Sein Penis steht in Habachtstellung erhoben. Sie lächelt.
    Auf ihr Kommando kriecht er vorwärts, um ihre Stiefel zu küssen. Er riecht Wachs
    und Leder, fühlt durch die schwarze Haut

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