Die Enden der Parabel
gebeugt, preßt seine Wange einen Augenblick lang gegen die rauh verputzte Steinmauer des palladianischen Gebäudes. Sein Wohnquartier ist ihm zum Exil geworden. Sein wahres Zuhause ist bei der Herrin der Nacht, bei ihren weichen Stiefeln und ihrer harten, fremdländischen Stimme. Nichts erwartet ihn jetzt noch als eine späte, nächtliche Tasse Fleischbrühe, der alltägliche Papierkram, den er unterzeichnen muß, und die Dosis Penicillin, die ihm Pointsman gegen die Wirkungen von E. coli verschrieben hat. Aber vielleicht morgen nacht ... vielleicht dann. Er weiß nicht, wie er es noch länger ertragen soll. Aber vielleicht, schon in den frühen Morgenstunden ...
[2.5] Sprichworte fuer Paranoide
Der Wendepunkt von Nacht zu Tag, vom Fischetraum zum jungen Widder, Wasserschlaf zu Feuerwacht, steht über uns. Jenseits der Front zum Westen, oben im Harz, in Bleicherode, bereitet sich Wernher von Braun, den jüngst gebrochenen Arm im Gipsverband, auf seinen 33. Geburtstag vor. Geschützfeuer donnert durch den Nachmittag. Hinter deutschen Wiesen wirbeln russische Panzer Staubphantome auf. Die Störche sind zurück, und die ersten Veilchen blühen. Bei der "Weißen Visitation" sind die Tage längs der Kreideküste jetzt hell und klar. Die Büromädchen stülpen ein paar Pullover weniger über, geben ihren Brüsten eine Chance der Sichtbarkeit. Der März ist eingezogen wie ein Lamm. Lloyd George liegt im Sterben. Vereinzelte Besucher werden auf dem immer noch gesperrten Strand gesichtet, wo sie mit hochgekrempelten Hosen und offenem Haar zwischen obsolet gewordenen Stahl- und Kabelkonstruktionen sitzen und mit fröstelndgrauen Zehen in den Kieseln wühlen. Knapp unter Wasser laufen parallel zum Ufer meilenlang geheime Röhren, die immer noch bereit sind, auf einen Fingerdruck hin Brandöl zu versprühen und deutsche Invasoren zu rösten, die zu längst veralteten Träumen gehören ... Nur Bürokratenübermut, ein Maiaufschwung des Geistes, brächte noch die hypergolische Entzündung, die zu Carl Orffs, des bayerischen Melodiengrobschmieds, fröhlichem
O, O, O, Totus floreo! lam amore virginali Totus ardeo ...
die ganze Festungsküste von Portsmouth bis Dungeness in ein riesiges Frühlingsfreudenfeuerwerk verwandeln würde. Pläne in dieser Richtung schlüpfen täglich aus den helleren der Eierköpfe bei der "Weißen Visitation" - der Winter der Hunde, des schwarzen Schneetreibens überflüssiger Worte, nähert sich seinem Ende. Bald wird er hinter uns liegen. Doch einmal dort, in unserem Rücken - wird er uns dann von hinten erkälten, wie warm das Feuer auf dem Meer auch vor uns brennen mag?
Im Casino Hermann Goering ist ein neues Regime an der Macht. General Wivern ist das letzte vertraute Gesicht, scheint aber nicht mehr sonderlich viel zu sagen zu haben. Slothrops Vorstellung von der Verschwörung gegen ihn hat sich entwickelt. Früher war ihm das Komplott als etwas Monolithisches erschienen, allmächtig und allumfassend, nichts, dem er je nahe kommen könnte. Bis zu diesem Trinkspiel und dieser Szene mit Katje und den beiden plötzlichen Lebewohls. Dagegen jetzt -
Sinnsprüche für Paranoiker, 1: Der Meister mag dir verborgen bleiben - doch seine Kreaturen kannst du kitzeln.
Und was dazu kommt: er beginnt seit kurzem, sich in einen besonderen Bewußtseinszustand reinzufinden, nichts in der Art von Träumen, sondern eher, was man früher mal als "Träumerei" bezeichnet hat, obwohl die Farben bei ihm mehr polychrom als mattpastell ausfallen ... und in solchen Phasen scheint er Kontakt zu einer Seele aufgenommen zu haben und noch zu halten, die wir kennen, einer Stimme, die schon mehr als einmal durch das Sektionsmedium Carroll Eventyr hindurch gesprochen hat: dem verewigten Roland Feldspath, jenem langernannten Fachmann für Kontrollsysteme, Bahngleichungen und Feedbackphänomene in diesem wie in jenem Aeronautischen Establishment. Es scheint, als triebe sich Roland aus persönlichen Gründen über dem Slothropschen Raum herum. Durch Sonnenstrahlung, deren Energie er kaum spürt, und Stürme, die seinen Rücken mit statischen Aufladungen kitzeln, flüstert er ihm aus einer Höhe von acht Kilometern etwas zu, aus jener wilden Höhe, wo er an einer der Letzten Parabeln -Flugkorridoren, die niemals beflogen werden dürfen- stationiert ist und als einer der Unsichtbaren Hüter der Stratosphäre arbeitet. So hoffnungslos verbürokratisiert auf dieser Seite wie nur jemals auf der anderen, schlägt er seine astralen
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