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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Stimmen vom Land, gellend und gnadenlos. Er liegt erstarrt und hofft, daß ihn die Bettfedern nicht verraten werden. Zum wahrscheinlich erstenmal hört er Amerika, wie es für einen Nichtamerikaner klingen muß. Später wird er sich erinnern, daß das, was ihn am meisten überrascht hat, der Fanatismus war, das Vertrauen nicht nur auf die plumpe Gewalt, sondern auf die Richtigkeit dessen, was sie vorhatten... Vor langem hat man ihm erzählt, daß so was für die Nazis typisch wäre und ganz besonders für die Japse - wir waren die einzigen, die immer fair spielten -, aber dieses Paar da draußen vor der Tür ist jetzt genauso demoralisierend wie eine Großaufnahme von John Wayne (aus einem Winkel, der betont, wie schlitzig seine Augen sind, komisch, daß man das nie bemerkt hat), und John Wayne brüllt: "BANZAI!" "Moment mal, Ray, dort läuft er-" "Hopper! Du Arschloch, komm zurück-"
    "Nie-wieder kriegt ihr mich in eine Zwangsjackeeee ..." verliert sich Hoppers Stimme um die Ecke, verfolgt von den beiden MPs.
    Es dämmert Slothrop, buchstäblich, durch die gelbbraunen Rouleaus, daß dies sein erster Tag draußen ist. Sein erster Morgen in Freiheit. Er muß nicht zurück. Aber frei? Was heißt das: frei? Endlich fällt er in Schlaf. Kurz vor Mittag öffnet eine junge
    Frau mit einem Generalschlüssel die Tür und bringt ihm die Papiere. Er ist jetzt ein englischer Kriegsberichterstatter namens lan Scuffling.
    "Hier die Adresse von einem unserer Leute in Zürich. Wax-wing wünscht dir viel
    Glück, und er läßt fragen, was dich so lange zurückgehalten hat."
    "Meinst du, er erwartet eine Antwort?"
    "Er sagte nur, du müßtest drüber nachdenken."
    "Ü-ü-ü-übrigens." Es ist ihm gerade eingefallen. "Warum seid ihr mir eigentlich alle so behilflich? Mit Geld und allem?"
    "Wer weiß. Wir müssen die Muster ausfüllen. Es gibt wohl ein Muster, in das du gerade reinpaßt." "Ja-aber... "
    Doch sie ist schon verschwunden. Slothrop sieht sich im Zimmer um: Bei Tageslicht ist es schäbig und anonym. Selbst die Kakerlaken müssen sich hier unbehaglich fühlen ... Kann er, wie Katje auf ihrem Rad, so plötzlich losgeschleudert sein in einen Zahnkranz von Zimmern wie diesem hier, gerade lang genug in jedem, um Wind oder Verzweiflung aufzusammeln für den Schritt ins nächste, aber nie zurück, nie wieder? Ohne die Zeit, auch nur die Rue Rossini kennenzulernen, welche Gesichter aus den Fenstern rufen, wo man gut essen kann, wie das Lied heißt, das alle pfeifen in diesen frühreifen Sommertagen ...
    Eine Woche später ist er in Zürich, nach einer langen Fahrt mit der Eisenbahn. Während die Metallgeschöpfe sich ihre Einsamkeit in diesen Tagen der gelösten Nieten und des dichten Nebels mit Schauspielerei verkürzen, chemische Synthesen nachahmen, zu Molekülen werden in Zerlegung und Montage, Ein- und Umbau, döst er durch eine Halluzination von Bergen, Nebelschwaden, Schluchten, Tunnels, steilen Anstiegen hinter keuchenden Maschinen, Kuhglocken in der Finsternis, grünen Wiesen im Morgengrau, Gerüchen nach nassem Gras, Kolonnen von unrasierten Streckenarbeitern vor den Fenstern, unterwegs zu irgendeiner Reparatur, stundenlangen Aufenthalten auf Verschiebebahnhöfen, deren Schienenstränge wie die Schichten einer durchgeschnittenen Zwiebel auseinandergehen und zusammenlaufen, grauen und verlassenen Orten, Nächten voller Pfiffen, voll von Kuppeln, Krachen und Rangieren, glotzenden Kühen auf abendlichen Hügeln, wartenden Militärkonvois vor geschlossenen Schranken, niemals von klar erkennbarer Nationalität, nicht einmal einer Seite zuzuordnen, nur dem Krieg selbst, der einen Trümmerlandschaft, in der die "neutrale Schweiz" nur eine ziemlich angestaubte Konvention ist, beachtet zwar, jedoch mit ebensoviel Sarkasmus wie die Formeln vom "befreiten Frankreich", dem "totalitären Deutschland", "faschistischen" Spanien und so fort ...
    Der Krieg hat Zeit und Raum nach seinem eigenen Bild verändert. Die Schienen gehören jetzt zu anderen Netzen. Was wie Zerstörung aussieht, ist nichts anderes als die Anpassung des Bahnsystems an neue Zwecke, an Absichten, von denen er auf seiner ersten Fahrt nur Vorzeichen, nur erste Weichenstellungen bemerkt... Er logiert sich im Hotel Nimbus ein, in einer düsteren Gasse im Niederdorf, dem Vergnügungsviertel von Zürich. Das Zimmer liegt unter dem Dach und ist nur über eine Leiter zu erreichen. Auch draußen vor dem Fenster gibt es eine Leiter, also scheint es ihm okay. Bei Einbruch der

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