Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
Vom Netzwerk:
verkommst du noch in diesem Land ... Hinein, durch Parabel und Parabel, geradewegs in den sonnlosen Berg, die Kühle, das Dunkel, die hallenden Echos der Mittelwerke. Es gibt eine gar nicht so seltene Persönlichkeitsstörung, die unter dem Namen Tannhäuserismus bekannt ist. Manche von uns begeben sich gerne ins Innere von Bergen, und durchaus nicht immer mit lüsternen Erwartungen - Venus, Frau Holda, körperliche Freuden -, nein, viele kommen in Wahrheit wegen der Gnome, der Bergmännlein, die kleiner sind als du, wegen der Grabesstimmung, mit der die Zeit hier unten deine vermummten Wege überwölbt, schweigend durch eine meilenlange Folge von Höfen, ganz ohne Angst, dich zu verirren ... keiner starrt dich an, keiner will dich taxieren... unsichtbar für öffentliche Augen ... selbst ein Minnesänger will mal alleine sein ... lange Regentagsspaziergänge in überdachten Räumen ... die Tröstung eines abgeschlossenen Ortes, an dem sich alle einig sind über den Tod. Slothrop kennt diesen Ort. Weniger von den Lageplänen, die er im Casino studieren mußte, als auf die Art, in der man weiß, daß jemand anwesend ist... Die Generatoren der Fabrik liefern weiterhin Strom. Aber nur wenige nackte Glühbirnen höhlen Lichtkugeln in die Finsternis. Wo Dunkelheit, wie Marmor, abgebaut und an einen anderen Ort transportiert wird, ist die Glühbirne der Meißel, der sie aus ihrer Trägheit losbricht - sie ist zu einer der großen, heimlichen Ikonen der Demut geworden, jener Massen, die übergangen worden sind von Gott und der Geschichte. Als die Gefangenen aus Dora auf ihren Raubzug gingen, waren die Glühbirnen in den Montagetunnels das erste, was verschwand: Vor allen Nahrungsmitteln, vor den Verzückungen, die aus Arzneischränken und der Apotheke des Lazaretts in Stollen Nummer 1 zu plündern waren, mußten die "Befreiten" diese zerbrechlichen, fassungslosen (wofür auch mutterlos ein Wort wäre) Sinnbilder an sich bringen ...
    Der Grundriß der Anlage war ein weiterer Geistesblitz von Etzel Ölsch, ein Nazi-Blitz wie die Parabel, doch wiederum gleichzeitig ein Symbol, das der Rakete gehörte. Man stelle sich das Buchstabenpaar SS vor, beide Lettern aber ein wenig in die Länge gezogen. Das sind die beiden Haupttunnel, die fast zwei Kilometer tief in den Berg hineinreichen. Oder das Bild einer Leiter, die leicht s-förmig verzogen auf dem Boden liegt: 44 sprossenartige Quertunnel oder Stollen, die die beiden Haupttunnel verbinden. An die hundert Meter Felsgestein, an der tiefsten Stelle, türmen sich darüber.
    Doch in der Form steckt mehr als nur ein gestrecktes SS. Lehrling Hupla kommt eines Tages hereingestürzt, um es dem Architekten zu berichten. "Meister!" gellt er, "Meister!" Ölsch hat sich in den Mittelwerken einquartiert, getrennt von den Fabrikanlagen, am Ende einiger privater Tunnel und Gänge, die in keinem der offiziellen Lagepläne eingezeichnet sind. Er steigert sich immer tiefer in eine grandiose Phantasie vom Leben eines Architekten unter Tage hinein und besteht neuerdings auch darauf, von seinen Helfern mit dem Titel "Meister" angesprochen zu werden. Doch das ist keineswegs die einzige Exzentrizität, die er sich gestattet. Die letzten drei Entwürfe etwa, die er dem Führer präsentiert hat, waren optisch zwar auf der vollen Höhe der Zeit, herrliches Neues Deutschland, hatten aber alle den kleinen Schönheitsfehler, daß die Gebäude nicht standfest wären. Sie sehen ganz normal aus, sind aber so entworfen, daß sie in sich zusammensinken würden wie fette Männer, die in der Oper schlafend in den Schoß des Nachbarn plumpsen, kaum daß der letzte Nietenkopf geschlossen, die letzte Verschalung von den neuen allegorischen Figuren abgenommen wäre. Das ist Ölschs "Todestrieb"-Problem, wie seine kleinen Helfer sagen: es zeugt eine Menge Klatsch bei den Mahlzeiten in der Messe oder draußen an den düsteren Steinladerampen, wo die Kaffeemaschinen stehen ... Es ist schon lange nach Sonnenuntergang, an jedem Arbeitstisch in dieser überwölbten, fast freiliegenden Bucht brennt eine eigene Lampe. Die Gnome sitzen, mitten in der Nacht, hier draußen, und nur ihre Glühbirnen leuchten, bedingt und heikel... wie leicht könnte alles in Dunkelheit versinken, in der nächsten Sekunde schon ... Jeder Gnom arbeitet an seinem Zeichenbrett, zu dieser späten Stunde. Es gibt einen letzten Termin - aber man weiß nicht, ob sie Überstunden machen, um ihn noch zu halten, oder ob sie ihn bereits überschritten haben

Weitere Kostenlose Bücher