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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Tschitscherin hat keinerlei politisches Motiv. Der kleine Staat, den er im deutschen Vakuum errichtet, gründet auf einem Zwang, den er schon nicht mehr zu begreifen versucht, einem inneren Zwang, das Schwarzkommando und Enzian, den mythischen Halbbruder, zu vernichten. Tschitscherin stammt aus einer alten Nihilistenzucht: unter seinen Vorfahren gibt es jede Menge Bombenschmeißer und enthusiastische Mörder. Er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Namensvetter, der mit Walther Rathenau den Vertrag von Rapallo ausgehandelt hat - diesem Prototyp eines langfristigen Planers, der aus dem Exil, vom Menschewiken in einen Bolschewiken verwandelt, den Glauben an einen Staat mitbrachte, der sie alle überleben würde, in dem sein Stuhl am Kabinettstisch so selbstverständlich von einem anderen eingenommen werden würde, wie er auf den Platz Trotzkis geschlüpft war ... die Sitzenden würden kommen und gehen, die Stühle würden bleiben ... nun schön. Das ist diese Sorte Staat. Aber daneben gibt es auch die Variante unseres anderen Tschitscherin, einen sterblichen Staat, der nicht länger existiert als die Individuen, aus denen er besteht. Tschitscherin fühlt sich verbunden, durch Liebe und in physischer Angst, mit den Studenten, die den Tod unter den Karossen der Mächtigen gefunden haben, mit den Augen, die betrogen worden sind von Nächten ohne Schlaf, den Armen, die sich begeistert einem Tod durch absolute Macht geöffnet haben. Er beneidet sie um ihre Einsamkeit, um ihren Willen, den Weg allein zu gehen, selbst außerhalb einer militärischen Struktur und oft ganz ohne Liebe oder Unterstützung. Sein eigenes Netzwerk aus treuen Fräuleins überall in der Zone ist ein Kompromiß. Er weiß, daß es ihm zuviel Bequemlichkeit beschert, selbst wenn die nachrichtendienstlichen Erträge gut sind. Doch gemessen an dem, was er zu tun hat, wiegen die wahrnehmbaren Risiken von Liebe und Anhänglichkeit noch leicht genug für ihn, um sie in Kauf zu nehmen.
    In den frühen Tagen der Stalin-Ära war Tschitscherin in einer abgelegenen "Bärenecke" (medweschi ugolok) tief unten im Siebenstromland stationiert. Im Sommer schwitzten die Bewässerungskanäle ihr verwaschenes Gitter über die grüne Oase. Im Winter standen Teegläser klebrig auf den Fensterbrettern, und die Soldaten spielten Preference und gingen nur vors Haus, um zu pissen oder mit der kürzlich verbesserten, neuen Moisin ein paar Schüsse auf überraschte Wölfe am Ende der Straße abzugeben. Es war ein Land des besoffenen Heimwehs nach Städten, der Stille kirgisischer Ritte und des pausenlosen Bebens in der Erde ... Wegen der Erdbeben wagte es niemand, höher als einstöckig zu bauen, so daß der Ort wie ein Wildwestfilm aussah: eine lange, braune Staubstraße, beiderseits flankiert von grandiosen zwei- und dreistöckigen Fassaden mit nichts dahinter. Er war gekommen, um den Stämmen, die so weit draußen lebten, ein Alphabet zu bringen: sie kannten nur die mündliche Rede, Gesten, Berührungen, noch nicht einmal eine arabische Schrift, die zu ersetzen gewesen wäre. Tschitscherin arbeitete mit dem lokalen Likbes-Zentrum zusammen, einem Glied in der Kette der "roten Jurten", wie sie in Moskau genannt wurden. Kirgisen, jung und alt, kamen aus der Steppe, rochen nach Pferden, saurer Milch und dem Rauch ihrer Kräuter und stierten auf
    Schiefertafeln voller Kreidezeichen. Die steifen lateinischen Lettern wirkten nicht minder fremd auf den russischen Kader - die hochgewachsene Galina in ihren abgetragenen Armeehosen und grauen Kosakenblusen ... die lockige und sanftgesichtige Luba, ihre liebe Freundin ... Wjatscheslaw Tschitscherin, das politische Auge... drei Agenten, die - obwohl keiner von ihnen es so sah - das NTA repräsentierten, das Neue Türk-Alphabet, in einem ungewöhnlich fremden Land. Morgens nach dem Kasinofrühstück schlendert Tschitscherin gewöhnlich zur roten Jurte hinunter, um bei Galina, der gestrengen Schulmamsell, vorbeizuschauen -offensichtlich scheint sie ein paar weibliche Wesenszüge in seinem eigenen Charakter anzusprechen ... tja ... Oft, wenn er auf die Straße tritt, zuckt Wetterleuchten über seinen Morgenhimmel, plötzliche, gleißende Eruptionen. Gräßlich. Der Boden vibriert knapp unter der Hörgrenze. Es könnte das Ende der Welt sein, wenn es nicht, für Zentralasien, ein ganz gewöhnlicher Tag wäre. Puls auf Puls schlägt über die Weite des Himmels. Wolken, oft ungewöhnlich scharf gezeichnet, schwarz und zerklüftet,

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