Die Enden der Parabel
als zuvor bei jeder Wiederholung. Doch keiner der beiden Brüder vermag zu hören. Der schwarze, irgendwo in Deutschland, muß seine eigene Version eines Dzaqyp Qulan gefunden haben, einen kindlichen Eingeborenen, dessen Blicke ihn aufscheuchen wollen aus den deutschen Träumen von der Ankunft des Engels aus der zehnten Elegie, die Flügelschläge schon am Rand des Wachens, der gekommen wäre, ihm den weißen Marktplatz seines eigenen Exils so spurlos zu zertreten ... Nach Osten blickend hält es Wacht, an einem winterlichen Ufer oder auf einer erdfarbenen Schanze aus feingekörntem Stein, das schwarze Gesicht vor den weiten Tiefebenen Preußens und Polens, den Wiesenmeilen in Bereitschaft - genau wie Tschitscherin jetzt jeden Monat angespannter wird, windschlüpfriger an seiner Westflanke, da er erlebt, wie Geschichte und Geopolitik sie unaufhaltsam in die Konfrontation führen, die Radios immer schriller kreischen, neue Druckleitungen über leere Schluchten und Pässe steigen, unter der Hand vibrierend mit hydroelektrischer Wut, und die Tageshimmel stocken vor kilometerbreiten Fallschirmoffensiven, weiß wie Visionen der himmlischen Jurten reicher Männer, noch Übung erst und unbeholfen, doch wachsend wie jedes dieser Muster, weniger und weniger zum Spiel... Hinaus ins Gebein des Hinterlandes reiten Tschitscherin und sein treuer kirgisischer Gefährte, Dzaqyp Qulan. Tschitscherins Pferd ist eine Version seiner selbst - ein Appaloosa aus den Vereinigten Staaten mit dem Namen Snake. Snake war früher eine Art ausgehaltener Luxusemigrant. Vorletztes Jahr lebte er in Saudi-Arabien und erhielt jeden Monat einen Scheck von einem verrückten (oder, für Liebhaber paranoider Systeme: unangenehm rationalen) Ölbonzen aus Midland, Texas, der dafür zahlte, daß Snake den amerikanischen Rodeo-Arenen fernblieb, wo damals der berühmt-bockige Bronco Midnight jede Menge junger Männer links und rechts in die sonnendürren Zäune schmiß. Snake allerdings ist nicht nur einfach wild im Midnight-Stil, sondern erfüllt von methodischer Mordlust. Schlimmer noch, er ist unberechenbar. Man kann auf ihm reiten, und er verhält sich gleichgültig oder fügsam wie eine Jungfrau. Dann wieder, ohne Warnung, kann es ihn aus dem letzten Schnauben eines Seufzers heraus packen, und er tötet mit der kleinen Geste eines Hufes, einem schlangengleichen Zucken des Kopfes zu genau der richtigen Stelle im genau richtigen Augenblick, ohne andere Begründung als die des Tötens. Nichts davon läßt sich vorhersehen: Monatelang kann er nicht den geringsten Ärger machen. Tschitscherin hat er bisher überhaupt ignoriert. Aber bei Dzaqyp Qulan hat er es bereits dreimal versucht. Zweimal war es reines Glück, das dem Kirgisen das Leben erhalten hat, beim drittenmal nahm er die Herausforderung an und stand den langen Kampf tatsächlich durch, bis das Biest zu einem Durchschnitt an Gehorsam zugeritten schien. Doch jedesmal, wenn Tschitscherin auf den Hügel zu Snakes klirrendem Pflock geht, trägt er mit dem ledernen Zaumzeug und dem durchgerittenen Teppich für den Rücken des Tieres auch seinen Zweifel, seinen unstillbaren Argwohn mit hinauf, daß der Kirgise das Pferd noch nicht endgültig gebrochen hat: daß Snake nur auf seinen Augenblick wartet... Sie entfernen sich von der Bahnlinie, wenden den freundlicheren Zonen der Erde den Rücken zu. Auf Kruppe und Flanke des Appaloosa explodieren schwarze und weiße Sterne, Novas, deren Zentrum ein reiner Kreis aus Leere ist, ein Vakuum ohne Farbe, in welches mittagsrastende Kirgisen von der Straße Blicke geworfen und sich dann grinsend abgewandt haben, mit einer Drehung ihres Kopfes über den Horizont hinter ihnen.
Seltsam, seltsam sind die Gesetze des Öls und das Wesen seiner Diener. Seit Arabien, auf dem Weg zu Tschitscherin, der seine andere Hälfte sein mag, hat Snake viel Veränderung erlebt, Pferdediebe und Gewaltritte, Konfiskation durch diese Regierung oder jene, Entkommen und Flucht, die in immer entlegenere Länder führte. Dieser Ritt hier, zwischen kirgisischen Fasanen, die beim Herannahen des Hufgetrappels auseinanderlaufen, truthahngroße, schwarzweiße Vögel mit blutroten Spritzern um die Augen, schwerfällig unterwegs ins Hochland, führt Snake hinaus in etwas, das sein letztes Abenteuer werden könnte. Er erinnert sich kaum noch an die rauchumflossenen Wasserpfeifen der Oasen, die bärtigen Männer, die kunstvoll eingelegten, elfenbein- und lackverzierten Sättel, den Halfter aus
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