Die Enden der Parabel
geschürt wurden. Man hielt die Rebellion der Stämme für das Werk von Fremden, für eine internationale Konspiration, mit der eine neue Front eröffnet werden sollte. Noch mehr westliche Paranoia, fest verwurzelt im europäischen Gleichgewicht der Kräfte. Wie konnte es denn auch kasachische, kirgisische, östliche Gründe für den Aufstand geben? Waren die Nationalitäten denn nicht glücklich gewesen? Hatten fünfzig Jahre russischer Herrschaft nicht den Fortschritt gebracht? Wohlstand? Tja, im Augenblick, unter Moskaus Neuen Sternen, ist Dzaqyp Qulan der Sohn eines nationalen Märtyrers. Der Georgier ist an die Macht gekommen, die Macht in Rußland - uralt und
absolut, und hat sein Seid Nett Zu Den Nationalitäten verkündet. Doch obwohl der liebenswerte alte Tyrann tut, was er kann, bleibt Dzaqyp Qulan merkwürdigerweise derselbe "Eingeborene" wie zuvor, dem Tag für Tag von diesen Russen hier die Temperatur seiner Unruhe genommen wird. Sein rotbraun gegerbtes Gesicht, seine schmalen Schlitzaugen und staubigen Stiefel, das Ziel seiner Wanderungen und was sich wirklich abspielt in den einsamen Lederzelten draußen im Wind - das sind Mysterien, an die sie nicht zu rühren wagen. Sie schmeißen ihm liebenswürdige Zigaretten zu, konstruieren ihm papierene Existenzen, bedienen sich seiner Dienste als kultivierter Muttersprachler. Er darf seine Rolle spielen, mehr aber nicht... außer, wenn ihm Luba hin und wieder einen Blick zuwirft, der vom Falkesein erzählt, von Fußriemen, Himmel und Erde, Reisen ... oder Galina ein Schweigen, für das es vielleicht Worte geben könnte...
Sie ist in diesem Land zu einer Connaisseuse des Schweigens geworden. Das große Schweigen des Landes der sieben Ströme ist noch nicht alphabetisiert, wird es vielleicht niemals werden. Jeden Augenblick kann es eindringen in ein Zimmer oder in ein Herz und die vernünftigen sowjetischen Alternativen, die die Likbes-Agenten gebracht haben, zurückverwandeln in Kreide und Papier. Es ist ein Schweigen, das das NTA nicht auszufüllen, nicht zu liquidieren vermag, maßlos und erschreckend wie die Elemente hier in dieser Bärenecke - vom Maßstab einer größeren Erde, eines wilderen und sonnenferneren Planeten... Die Winde, der Stadt-Schnee und die Hitzewellen von Galinas Kindheit waren nie so ungeheuer und erbarmungslos. Sie mußte erst nach hier kommen, heraus an die Ränder, um zu erfahren, wie sich ein Erdbeben anfühlte und wie es war, einen Sandsturm auszuwarten. Was würde sie empfinden, wenn sie jetzt in die Städte zurückkehrte? Oft träumt sie eine Modellstadt aus Karton, eine Stadtplaner-Stadt, in allen Einzelheiten perfekt ausgeführt und so winzig, daß ihr Stiefeltritt ganze Wohnviertel auf einmal auslöschen könnte - und gleichzeitig ist sie eine Bewohnerin dieser Stadt, unten in den zierlichen Pappmodellen, die mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochschreckt, in schmerzhafte Tageshelle blinzelt und auf die Vernichtung wartet, auf die Schläge vom Himmel, starr in ihr Warten verkrampft, unfähig, die Gefahr beim Namen zu nennen, von der sie weiß - zu furchtbar, es laut auszusprechen -, daß sie es selbst ist, ihr zentralasiatisches Riesinnen-Ich das namenlose Etwas, das sie fürchtet... Diese ragenden, diese sterneverdunkelnden moslemischen Engel ... O, wie spurlos zerträte ein Engel den Trostmarkt... Immer ist er gegenwärtig, dort im Westen, der afrikanische Halbbruder mit seinen Gedichtbüchern, durchfurcht und besät mit holzkohlenschwarzen Zeilen germanischer Lettern - er wartet, Seite um Seite besudelnd, hinter ungezählten Wersten von Flachland und zonalem Licht, das sich zur jährlichen Wiederkehr ihrer Herbste schrägt und auf den Widerrist des Planeten lehnt wie ein altgewordener Zirkusreiter, mit nichts als seinem Plakatgesicht um ihre Aufmerksamkeit buhlend, um in jeder neuen, perfekt gedrehten Runde damit zu scheitern.
Aber hat nicht Dzaqyp Qulan ab und zu - nicht oft - über den papierenen Schulungsraum hinweg oder überraschend vor einem Fenster, das geöffnet war auf grüne Weite, Tschitscherin einen gewissen Blick zugeworfen? Hat dieser Blick nicht gesagt: "Nichts, was du tust, nichts, was er tut, kann dir beistehen vor der Sterblichkeit"? Und: "Ihr seid Brüder. Vereint oder getrennt - warum sollte es darauf ankommen? Lebt. Sterbt eines Tages, in Ehren oder in Schande, aber nicht durch die Hand des anderen ..." Das Licht jedes neuen gemeinsamen Herbstes gibt denselben kostenlosen Rat, mit weniger Hoffnung
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